780.000 Anträge warten auf ihre Bearbeitung

Bilanz der Stasi-Aufklärungsbehörde nach 100 Tagen Akteneinsicht/ Bisher konnten erst 1.000 Opfer ihre Akten einsehen  ■ Aus Berlin Mathias Geis

Schlimme Exzesse hatten diejenigen befürchtet, die seit dem Niedergang der DDR eine Öffnung der Stasi-Archive verhindern wollten. Seit nunmehr einhundert Tagen ist das Stasi- Unterlagen-Gesetz, das den Umgang mit den Akten regelt und den Opfern das Recht auf Einsicht gewährt, in Kraft. Die Akten kommen den Opfern zu Gesicht — die prognostizierten Gewalttätigkeiten zwischen Opfern und Tätern sind ausgeblieben. Nüchtern, nicht ohne Selbstbewußtsein, zog Joachim Gauck, Chef der Behörde, die längst seinen Namen trägt, gestern Bilanz: Die Grundlinien des Gesetzes hätten sich bewährt; trotz der Doppelbelastung der neugeschaffenen Institution — Aufbau der Behörde und Antragsflut — gehe die Arbeit „zügig voran“. Das werden die 420.000 Bürger, die seit Januar 1992 einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt haben, aus ihrer Perspektive sicher anders beurteilen. Denn bislang bekamen erst eintausend Personen ihre Akte zu sehen. Die Vorbereitung einer Akteneinsicht bedarf — nicht zuletzt aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen — eines enormen Arbeitsaufwands. Für die Erledigung von 71 Einsichtsanträgen, erläutert der Direktor der Behörde, Hans-Jörg Geiger, mußten in einem Referat 270 Akten mit insgesamt 45.000 Blatt gelesen und für die Einsicht unter Wahrung schutzwürdiger Belange Dritter vorbereitet werden. Hinzu kommen, so Geiger, aufwendige Arbeiten zur Entschlüsselung von Decknahmen und die Herstellung etwaiger Kopien, in denen sämtliche Namen Dritter geschwärzt werden müssen.

Zu den 420.000 Anträgen kommen noch die 360.000, die bereits 1991 gestellt worden waren. Für insgesamt 130.000 Personen wurde die Überprüfung auf eine offizielle oder inoffizielle Zusammenarbeit mit dem früheren Ministerium für Staatssicherheit beantragt. Von den projektierten 3.400 Mitarbeitern sind derzeit erst 1.995 tätig. Nur eine Zahl kann die Behörde derzeit entlasten: Nach bisherigen Recherchen wurden sechzig Prozent aller Antragsteller vom MfS gar nicht erfaßt.

Doch mit Antragsflut und Überlastung sind die Probleme der Behörde kaum zu fassen. Seit sie ihre Arbeit aufnahm, steht sie im Zentrum der öffentlichen Kritik. Kopfjäger oder Inquisitor lauten die härtesten Anwürfe, mit denen Gauck und seine Behörde belegt werden. Es gehöre zu diesem Posten, „öfter mal zwischen den Stühlen zu sitzen“, verniedlicht Gauck die Angriffe. Daß sie kommen, ist nicht verwunderlich. Aus der Behörde stammen die Informationen, die nicht selten über die Zukunft eines Überprüften entscheiden. Vergessen wird dabei oft, daß die Behörde gar nicht aus eigener Initiative tätig wird, sondern auf Antrag des Untersuchungsausschusses im Potsdamer Landtag. Auch trifft die Behörde keine Entscheidung. Sie legt eine Indizienkette vor, über deren Beweiskraft der Antragsteller zu entscheiden hat.

Im Fall des Rektors der Humboldt-Universität, Heinrich Finck, hielt der Berliner Wissenschaftssenator den Beweis einer Stasi-Mitarbeit für erbracht — die 64. Kammer des Berliner Arbeitsgerichtes sah das anders. Fink darf wieder lehren. Doch was die Kritiker gerne als Beweis gegen die Sorgfalt der Behörde anführen, ist aus deren Sicht eine sinnfällige Entlastung. Die Bewertung und die möglichen Konsequenzen für die Betroffenen liegt nicht im Auftrag der Behörde.

Am Fall Fink fand die Kampagne gegen die Aktenbehörde ihren ersten Höhepunkt. Seit dem der brandenburgische Ministerpräsident zum Objekt der Gauck-Recherche wurde, hat sich die Kritikerschaft parteiübergreifend ausgeweitet. Selbst prominente SPDler, die Gauck bislang den Rücken freihielten, haben plötzlich Probleme mit seiner Arbeit. Da greift der klassische Mechanismus, demzufolge der Überbringer schlechter Nachrichten haftbar gemacht wird. Auch aus der Bundesregierung, die die Rechtsaufsicht über die Behörde ausübt, kommen kritische Töne. Auch dafür findet Joachim Gauck Verständnis. Doch die Bundesregierung müsse „nicht jede meiner Handlungen fürsorglich kommentierend begleiten.“