NACH DREI WOCHEN PAUSE ERSCHEINT DIE 'PRAWDA‘ WIEDER: GEWANDELT

„Was kostet die Wahrheit?“

Moskau (taz) — „Nicht mehr als drei Kopeken!“ Die Zeiten, als dieser Spruch noch als Anspielung auf den niedrigen Wahrheitsgehalt der vom Zentralorgan der KPdSU verbreiteten News galt, sind längst vorbei. Schon 1991 stieg der Preis der Prawda auf zehn Kopeken, und heute trägt sie wie die meisten russischen Zeitungen den Aufdruck: „Preis frei nach Vereinbarung“ — das heißt, sie ist am Kiosk bis zu zwanzigmal und im Abonnement zwölfmal teurer als im letzten Jahr. Und dennoch brach der Tag heran, als der Verlag „Presse“ dem ehemaligen Hätschelkind wegen ungedeckter Konten das Erscheinen aufkündigte.

Nach drei Wochen Funkstille erschien die 'Prawda‘ in einer erneuerten Ausgabe am 7.April, und dreimal in der Woche soll sie jetzt herauskommen. Die Leserzahl von einst, über zehn Millionen, ist in den letzten zwei Jahren beharrlich auf heute eine Million vierhunderttausend gesunken. In dem riesigen neunstöckigen parteieigenen Redaktionskomplex machten es sich früher klammheimlich allerlei mit der 'Prawda‘ verbundene kommerzielle Firmen gemütlich, die der Redaktion saftige Rendite aus alles andere als journalistischer Tätigkeit einbrachten. Damit war es nach dem Augustputsch aus, in dessen Verlauf die 'Prawda‘ der Junta die Stange gehalten hatte. Nach Enteignung des KPdSU-Besitzes begann zwischen den Moskauer Zeitungen ein Gerangel um das Gebäude. Von den anonymen neun Etagen bewohnt die 'Prawda‘ jetzt nur noch drei. Zwei Linienorden und einen Roten Oktoberorden hat sie allerdings auf der neuen Titelseite über das Interim hinweggerettet — nur der Appell an die „Proletarier aller Länder“ wurde schnöde fallengelassen. Daß sie ihre 40 Auslandsbüros — die auch nicht nur journalistischen Zwecken dienten — bisher ebenfalls aufrecht erhält, das weiß das Blatt seinem Westleserstamm vorzuenthalten. Zu gern stellt es sich als Opfer einer die Pressefreiheit erwürgenden Marktwillkür dar. „Das teuerste Geld kommt von den Lügnern“, heißt es im Redaktionskommuniqué der Renaissance-Ausgabe vom 7.April. Denn die 1,8 Mio. Rubel, gespendet von unentwegten Fans wie Frau Miranova aus Samara, die das Ex-Pflichtblatt heute mit „derartiger Leidenschaft“ liest, daß „ich mich einfach nicht losreißen kann“, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Und sonst? Nach langem guten Zureden von Vizepräsident Alexandr Rutschkoj und dem Parlamentspräsidenten Ruslan Chabuslow gab die junge russische „Imkombank“ 50 Millionen Kredit; mit einem Zinssatz von jährlich 30Prozent. Über Geldquellen im Ausland schweigt sich die Chefredaktion ebenso diskret aus wie über mögliche Mitherausgeber. Wie bei allen russischen Zeitungen werden neue Abonnenten noch einmal ein Vielfaches des bisherigen Preises zahlen müssen. Inzwischen sucht sich die Zeitung ein spezifisches Zielpublikum, das sie als Amtsblatt nie nötig hatte. Sie leiht ihre Stimme den Zukurzgekommenen und Gekränkten im Ex- Imperium. Und ausländische Korrespondenten erfahren aus ihr erstmals etwas über die täglichen Nöte des kleinen Mannes in Rußland. Die explizit oppositionelle Position zur Politik der heutigen russischen Regierung illustrieren die Losungen des Blattes zum 6. Kongreß der Volksdeputierten: „Alle Macht den Sowjets“, und „Gegen Spekulation mit dem Volkseigentum“. Offenbar zur Erinnerung an die gute alte Zeit, als das Volk noch wirklich die Macht hatte. „Kompromat“ — auf russisch die Abkürzung für „kompromittierendes Material“ — über die jetzt Herrschenden soll eine neue, praktisch von der gleichen Redaktion produzierte 'Prawda Iswestija‘ veröffentlichen: die Zeitschrift 'Antimafia‘, deren Erscheinungshäufigkeit noch nicht feststeht. Der Nullnummer hat es entweder an ebensolchem „Kompromat“ gefehlt, oder sie genoß schon zu viel des wirtschaftlichen Erfolges — ein und dasselbe Artikelchen erschien in ihr an zwei Stellen zugleich. Barbara Kerneck