Neues Kapitel in Stolpes Erzählungen

Laut Stasi-Unterlagen aus dem Gauck-Bericht lieferte Stolpe auch Informationen über Kohl, Weizsäcker, Rau u.a./ Stolpe: Alles „Unfug“/ Stolpe will „Kernsatz des Gauck-Berichtes kippen“  ■ Aus Berlin Mathias Geis

Als „Unfug“ hat der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe neuerliche Berichte bezeichnet, nach denen er in seinen Gesprächen mit der DDR-Staatssicherheit auch Informationen über westdeutsche Politiker weitergegeben haben soll. Doch in dem 600seitigen Aktenpaket, das die Gauck-Behörde am Freitag dem Untersuchungsausschuß des Potsdamer Landtages übergeben hatte, finden sich unter der Quellenangabe „Sekretär“ auch Informationen über Kohl, Weizsäcker, Rau und andere (siehe Kasten). Stolpe galt im Westen über Jahre hinweg als Hauptansprechpartner außerhalb der SED. Insbesondere die Deutschlandpolitiker aller Parteien schätzten seine Analysen als unverzichtbare Hilfen bei der Ausformung der Beziehungen zur DDR.

Ungeachtet der neuerlichen Facetten aus Stolpes Informationskontakten zum MfS sehen die kirchlichen Stasi-Beauftragten des brandenburgischen Landtages keinen Anlaß, Stolpe den Rücktritt als Ministerpräsident nahezulegen. Monsignore Karl-Heinz Ducke und Generalsuperintendent Günter Bransch, die beide im Auftrag des Potsdamer Parlamentes die Abgeordneten auf Stasi-Kontakte hin überprüfen, stuften Stolpe gestern als unbelastet ein. Zu diesem Urteil seien die beiden Kirchenvertreter nach Durchsicht des Gauck-Gutachtens sowie nach einer Unterredung mit Stolpe gekommen. Bereits in früheren Fällen waren sie den Einschätzungen der Gauck-Behörde nicht gefolgt. Von zwölf durch die Behörde als belastet eingestuften Abgeordneten empfahlen Ducke und Bransch lediglich zweien die Niederlegung ihrer Mandate.

Der Ende letzter Woche vorgelegte Bericht über die früheren Stasi- Kontakte des Ministerpräsidenten belegt nicht nur, daß sich Stolpe über einen Zeitraum von über zwanzig Jahren konspirativ mit der Stasi getroffen und Informationen weitergegeben hat; dies ist — ungeachtet unterschiedlicher Bewertungen von Stolpes Motivation und Zielen — ohnehin unstrittig. Doch entgegen Stolpes Beteuerung, er habe von seinem Status als Inoffizieller Mitarbeiter nichts gewußt, kommt der Gauck- Bericht auch zu der Einschätzung, der Kirchenjurist sei nicht ohne sein Wissen als IM „Sekretär“ geführt worden. Dem widersprach bereits vor Wochen der frühere Chef der Stasi-Kirchenabteilung XX/4, Wiegand. Er behauptet — zusammen mit Stolpe —, dieser sei ohne sein Wissen als IM „Sekretär“ geführt worden, um ihn so besser „abschöpfen“ zu können. Warum eine fiktive Einstufung als IM die Quelle Stolpe für das MfS brauchbarer gemacht haben soll, ist nach wie vor unklar. Zudem stützt Gauck seine Einschätzung, Stolpe müsse von seinem IM-Status gewußt haben, nicht nur auf die bisherigen Erkenntnisse über die Arbeitsweise des MfS. Vielmehr spreche auch die Eigeninitiative der Quelle — umgehende Informationsübermittlung, spezifische Wünsche für die Kontaktaufnahme — für sein Selbstverständnis als IM.

Demgegenüber erklärte Stolpe gestern erneut, der Grundsatz des Gauck-Gutachtens, ein vom MfS als IM deklarierter Mitarbeiter müsse auch von seiner Führung durch die Stasi gewußt haben, sei falsch. „Diesen Kernsatz“, so Stolpe, „werden wir kippen.“ Er setze auf den „langen Atem der Wahrheit“, gutes Gewissen und das wachsende Verständnis der Leute, die sich mit den Verdächtigungen gegen ihn beschäftigten. Letzteres dürfte eine Anspielung darauf sein, daß die Popularitätswerte für Stolpe in Brandenburg proportional zum Belastungsmaterial gegen den Ministerpräsidenten anzuwachsen scheinen.

Was das Aufklärungsbedürfnis Stolpes betrifft, sind Zweifel angebracht. Zwar beteuert er seit Monaten, „in den Bemühungen, die ganze Wahrheit herauszufinden“, dürfe man „sich nicht durch Schlammschlachten irritieren lassen“; doch Stolpe hat es bislang sorgfältig vermieden, die Vorwürfe durch konkrete Einlassungen zu widerlegen. Warum die Kontakte mit der Stasi konspirativ vonstatten gingen, welche kirchlichen Aufträge er im einzelnen zu erfüllen hatte und wie er dieser Aufgabe gerecht wurde — das hat Stolpe bisher für keinen einzigen Fall anschaulich gemacht. Dem frühen Verweis auf seine umfangreiche Notizbuchsammlung, mit der sich die Gesprächskontakte bis ins einzelne nachvollziehen ließen, ist die Offenlegung nicht gefolgt. Ob die bevorstehende Entbindung Stolpes von seiner kirchlichen Schweigepflicht daran etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. Ungedeckt ist bislang auch Stolpes Verweis auf neun kirchliche Mitstreiter, mit denen er gemeinsam die Strategie gegenüber dem DDR-Geheimdienst abgesprochen habe. Keiner wurde bislang von Stolpe namentlich benannt, keiner hat sich als Mitstreiter zu erkennen gegeben.

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