Lehrjahre in Berlin

■ Vor 140 Jahren wurde in Lübeck die Schrifstellerin Ida Boy-Ed geboren.

Sie sei ebenso stolz auf ein gelungenes Ragout wie auf eine Novelle, soll Ida Boy-Ed einmal gesagt haben. Da hatte sie womöglich bereits mehr Novellen geschrieben als Ragouts hergestellt. Die Boy-Ed war eine Vielschreiberin, und sie schrieb gegen Geld. Doch anders als manch einer ihrer Schriftstellerkollegen hat der Erfolg ihre Selbstkritik nicht verdrängt. Sie habe ihr Talent »oft prostituieren müssen«, resümierte sie am Ende ihres Lebens.

Ida Boy-Ed starb 1928 als 76jährige hochgeehrt. Am Tage der Trauerfeier wurde in ihrer Heimatstadt Lübeck halbmast geflaggt. Danach ist sie allerdings schnell in Vergessenheit geraten, obwohl ein Kenner ihre »besten Werke« mit denen von Clara Viebig und sogar von Ebner- Eschenbach verglich — wenn sie schrieb, was sie wollte. Peter de Mendelssohn hat die Schriftstellerin 1975 mit einem Buch geehrt, das Beiträge von ihr, über sie, sowie Briefe an sie enthält. Doch nicht zufällig erschien diese Sammlung zum 100jährigen Geburtstag eines anderen Lübecker Prominenten, dem offenbar die eigentliche Ehre zugedacht war: Thomas Mann.

Ida Boy-Ed war nämlich Förderin und mütterliche Freundin des um 23 Jahre jüngeren Mannes. Er lernte sie bereits als Primaner in ihrem Salon kennen und verdankte ihr die Veröffentlichung seines ersten Gedichts. Er verdankte ihr vor allem, daß ihn seine geliebte Vaterstadt, in der er wegen seines Romans über den Verfall der Lübecker Kaufmannsfamilie »Buddenbrook« in Ungnade gefallen war, nach Jahren wieder aufnahm. Die einflußreiche Hanseatin hatte 1904 eine offizielle Einladung des 29jährigen Schriftstellers durchgesetzt.

1910 legte Ida Boy-Ed unter dem Titel Der königliche Kaufmann selbst einen Familienroman vor, der als »moderneres Gegenstück« der zehn Jahre vorher erschienenen Buddenbrooks gilt und ihr größter literarischer Erfolg wurde. In einem Brief an die Freundin lobte Thomas Mann diesen Roman aus verschiedenen Gründen, auch wegen seiner literarischen Qualitäten. Vor allem aber bewunderte er die »Studiertheit und Beherrschung alles Kaufmännischen«, an denen es ihm selber bei der Niederschrift der Buddenbrooks leider gefehlt habe.

Ida Ed heiratete bereits mit 17 Jahren den Kaufmann Boy, zu dem ihr später so wenig Schmeichelhaftes einfiel wie zum Beispiel folgende kleine Charakterstudie: »Mein Mann hatte keinerlei Interessen, und ich konnte auch keine in ihm erwecken.«

Das galt sogar für sein eigenes Geschäft; er führte es bald in den Bankrott. Ida Boy-Ed machte später keinen Hehl daraus, daß diese ausgesprochen koventionelle Heirat eine Fehlentscheidung war. Nicht einmal der Gatte selbst war damals das größte Hindernis ihrer schriftstellerischen Entfaltung, sondern die patriarchalisch-engstirnige Boy-Familie, in die sie eingeheiratet hatte.

Dennoch kam eine Scheidung nicht in Frage. Dafür tat Ida Boy-Ed als 26jährige etwas sehr Ungewöhnliches, für die konservative Vaterstadt geradezu Provozierendes. Nach der Geburt des dritten ihrer vier Kinder übergab sie die zwei Kleinen der Obhut ihrer verwitweten Schwester Amalie, nahm sich den sechsjährigen Sohn Karl und entschwand mit ihm nach Berlin, um dort eine Karriere aufzubauen, zu der sie sich berufen fühlte, seit ihr erster Roman vom Frankfurter Journal angenommen worden war.

Die zwei Jahre in der Hauptstadt reichten allerdings für den großen Durchbruch nicht aus. Die junge Frau hatte sich das Leben als alleinerziehende Mutter in einer kleinen Wohnung im Norden Berlins und vor allem die Konkurrenz der Schreibenden vorher nicht so hart vorgestellt. Sie schlug sich mit Feuilletons und Theaterkritiken durch, litt unter Geldmangel und einer Einsamkeit, die sie in der Kleinstadt nicht gekannt hatte.

Im Rückblick auf diese Jahre von 1878 bis 1880 beklagte sie den Mangel an jeglichem Zusammenschluß der Frauen und stellte sich selbst als Wegbereiterin der Frauenbewegung dar: »Wenn ich an die Schwierigkeiten und Mühseligkeiten zurückdenke, die mir fast jeden Schritt zu einem Wagnis machten, dann begreife ich recht, von welcher moralischen und wirtschaftlichen Bedeutung diese Frauenclubs sind. Dürfen wir uns nicht ein wenig rühmen, wir alle, die wir Vorkämpferinnen auf dem Weg der Frau waren — unbewaffnete, unbewußte und unbewehrte Vorkämpferinnen, zwischen dem Gestrüpp von Vorurteilen hindurch mit keiner Hilfe als der eigenen zähen Kraft?«

Ida Boy-Ed kehrte 1880 nicht deshalb nach Lübeck zurück, weil sie vor dem schweren Großstadtleben kapitulierte. Sie ging zurück zu ihren Kindern. Schon ein dreiviertel Jahr vorher hatte sie dem Drang der Boy- Familie nachgegeben, ihren ältesten Sohn nach Lübeck zu schicken, und sie folgte ihm, als sie gerade begonnen hatte, in Berlin Fuß zu fassen. Immerhin hatte die Exkursion ihr auch in ihrer Familie so viel Achtung verschafft, daß sie nicht mehr am Schreiben gehindert wurde. Dafür revanchierte sie sich mit ihrer wiederholten Selbstdarstellung als Hausfrau und Mutter, die über jede Nachlässigkeit erhaben war.

Der Vergleich von Ragout und Novelle war nicht nur so dahingesagt. Ida Boy-Eds schriftstellerischer Fleiß wurde nach dem Bankrott ihres Mannes zur Existenzgrundlage der Familie. Stolz zitierte sie am Ende ihres Lebens ihren ältesten Sohn, er habe seine Mutter nicht eine Minute untätig gesehen.

Sie schrieb etwa fünfzig Romane und noch viel mehr Novellen und Skizzen. Viele Titel sind nicht einmal dokumentiert. Von ihrem ersten Roman besaß die Schriftstellerin mit 75 selbst kein Exemplar mehr. Im Gegensatz zu Clara Viebig, Gabriele Reuter und anderen vergleichbaren zeitgenössischen Schriftstellerinnen sind die Werke von Ida Boy-Ed in den letzten Jahren nicht wieder neu aufgelegt worden.

In den öffentlichen Bibliotheken und in Antiquariaten sind — wenn überhaupt — fast immer die gleichen zwei bis drei Romantitel zu finden. Zu Lebzeiten der Schriftstellerin wurden nicht zuletzt ihre Frauenstudien gerühmt, unter anderem über Charlotte von Kalb, Charlotte von Stein, Germaine de Staäl und Dorothea Schlözer. Die einen (Frauen) lobten vor allem ihre Einfühlsamkeit, der andere (Thomas Mann) besonders ihre »kritizistische« Begabung. In der Tat sind diese Portraits aus beiden Gründen heute noch lesenswert: Hintergründige Einsicht in die Psychologie und Soziologie von Frauenleben ihrer Zeit und in das Geschlechterverhältnis läßt die Boy-Ed mit ihren Auserwählten ebenso verständnisvoll wie schonungslos umgehen.

Diese Texte gehören ebenso wie die meisten Novellen nicht zu den Werken, mit denen sich die Boy-Ed »prostituiert« hat. Manches ist sogar ausgesprochen sozialkritisch, wie etwa die Kreuzträgerin von 1894, in der die Rechtlosigkeit der Frau im zeitgenössischen Eherecht angeprangert und der Kampf der Frauenbewegung gegen die Bürgerliche Gesetzgebung unterstützt wurde. Helene Lange, die bekannteste zeitgenössische Wortführerin der Frauenbewegung, lobte die Boy-Ed als eine der wenigen deutschen Schriftstellerinnen, die sich nicht »achselzuckend von der großen Frauenbewegung abwenden«, sondern ihr »vielmehr ihre ehrliche und tatkräftige Sympathie« zuwendeten.

Den Trauergästen bei der Beerdigung der Boy-Ed sei zumute gewesen, als trage man eine regierende Fürstin zu Grabe. Dieser Vergleich mag an die »königliche Schönheit« der Schriftstellerin erinnern und an ihre souveräne Ausstrahlung. Man könnte auch versucht sein, an ihren Konservatismus zu denken, der womöglich zu ihrem allzu schnellen Vergessen beigetragen hat. Ida Boy-Ed wurde in ihrem Leben keine Freundin der Republik, und sie schalt Thomas Mann dafür, daß er sich nach seinen Betrachtungen eines Unpolitischen doch noch dazu durchrang, die Weimarer Republik zu begrüßen. Sie kritisierte auch seinen Roman Der Zauberberg, den sie als dekadent empfand — trotz seiner literarischen Qualitäten.

Wir sollten uns hüten, das Rätsel lösen zu wollen, das uns die widersprüchliche Persönlichkeit der Ida Boy-Ed mithin hinterläßt. Statt dessen könnten wir ihr für diese Widersprüche vielleicht sogar dankbar sein, die uns daran hindern, das Vergangene als Bestätigung unserer jeweiligen Gegenwart zu mißbrauchen — so oder so. Und Ida Boy-Ed sozusagen ungelöst und ungeglättet in Erinnerung bringen, nicht nur zu ihrem 140. Geburtstag am 17. April 1992. Irene Stoehr

Zum weiterlesen: Ida Boy-Ed. Eine Auswahl von Peter de Mendelssohn , Lübeck 1975