Gebeugter Riese

■ Uwe-Johnson-Ausstellung in der Akademie der Künste

Und immer verschwindet er, ein gebeugter Riese, in einem U-Bahn-Schacht, die Plastiktüte in der Hand.« So beschreibt Jürgen Becker seinen Schriftstellerkollegen Uwe Johnson. Ein Grenzgänger, der ständig auf der Flucht und auf der Suche zu sein scheint, nirgendwo sich auf immer niederlassen wollte oder konnte. Der Hessische Rundfunk und das Uwe-Johnson-Archiv in Frankfurt/Main haben in gemeinsamer Arbeit eine Ausstellung vorbereitet, die jetzt auch in Berlin zu sehen ist. Sie will den »Dichter der beiden Deutschlands« — ein von Johnson zeitlebens abgewehrtes Etikett — acht Jahre nach seinem Tod ins allgemeine literarische Gedächtnis zurückzurufen.

Die Ausstellung ist klein, überschaubar, findet Platz in einem einzigen Raum. Zu Beginn: ein an dem eintretenden Besucher leicht vorbeischauender Uwe Johnson; eine Landkarte der Mecklenburger Seenplatte, jener Landschaft, die Johnson literarisch verewigt hat. Vorher noch: Postkartenansichten von Güstrow, dem Ort, in dem der Autor seinen Schulunterricht bis zum Abitur »vervollständigt« (Johnson) hat.

Jetzt erst beginnt der eigentliche Hauptteil, der sich chronologisch in vier Stationen gliedert. Das Weltkriegsende 1945 ist der Anfang: Flucht der Familie Johnson, Umsiedlung von Pommern nach Mecklenburg, wo Johnson 1950 als 16jähriger schon FDJ-Funktionen innehat. Er widersetzt sich 1953 einer Kampagne gegen die »Junge Gemeinde« (die Jugendorganisation der Evangelischen Kirche) und lebt von da an auf schwierigem Fuß mit der DDR-Obrigkeit. Die Folge: Exmatrikulation von der Uni Rostock, an der er Germanistik studiert. Johnson wechselt nach Leipzig und schließt bei Hans Mayer sein Studium 1956 ab. Sein im gleichen Jahr verfaßter Romanerstling Ingrid Babendererde wird nicht veröffentlicht. Aber sein zweiter, drei Jahre später fertiggestellter: Mutmaßungen über Jacob, mit dessen Erscheinen beim Suhrkamp-Verlag Johnson nach West- Berlin überwechselt. Nicht ohne sich nach zehnjähriger »Benutzung der Staatsangehörigkeit« ordnungsgemäß von der DDR abzumelden.

So unangenehm ihm die Verhältnisse der DDR waren, so wenig konnte er sich mit der BRD anfreunden, jenem Teil Deutschlands, in dem ehemalige Nazis schon wieder zu Amt und Würden gekommen waren. Johnson wollte sich nicht als »politischer Flüchtling« verbuchen lassen. Er knüpft Kontakte zur Gruppe 47, vor allem zu Hans-Werner Richter und Ingeborg Bachmann. 1961 erscheint Das dritte Buch über Achim, ein Roman über einen fiktiven Radrennweltmeister, dessen reales Pendant 1958 für die DDR den Weltmeistertitel gewonnen hatte.

Seinen Lebensunterhalt bestreitet Johnson unter anderem als Westberliner Korrespondent der 'Zeit‘, in der er sich zum seit 1961 betriebenen Boykott der S-Bahn in West-Berlin kritisch äußert. Auffallend dabei seine pragmatische und moderate Haltung: den auf den Mauerbau hin veranlaßten Boykott bewertet er schlicht als verkehrsstrategisch hemmende Maßnahme, die schließlich den »kleinen Leuten« das wenige Geld aus den Taschen zöge. Den Verdacht der »Mauerfreundlichkeit« weist er strikt von sich. Zahlreiche Anfeindungen zieht der Autor auch als Fernsehkritiker des 'Tagesspiegels‘ auf sich, als er — entgegen eines von Springer-Postillen initiierten Boykotts des (Ost-)Deutschen Fernsehfunks — Kritiken über DFF-Serien (Der Schwarze Kanal und andrere) verfaßt.

Seit Anfang der sechziger Jahre unternimmt Johnson Reisen in die USA, 1966 ist er ein ganzes Jahr dort, diesmal als Lektor eines New Yorker Verlags. Ein weiteres Jahr kann er dank eines Stipendiums der Rockefeller Foundation finanzieren. In New York beginnt er auch die Arbeit an den Jahrestagen, jenem 2.000-Seiten-Werk, dessen letztes Kapitel erst fünfzehn Jahre später abgeschlossen sein wird. Die Jahrestage — Untertitel: Aus dem Leben der Gesine Cresspahl sind Johnsons wohlgehütetes Lebenswerk: der Versuch einer Verknüpfung von (quasi-)objektiver Realitätsabbildung, von Zeitgeschichte (immer aus der Perspektive von Gesine Cresspahl) und der sich stetig in die Gegenwart aufrollenden (Familien-)Geschichte der Protagonistin.

Die Ausstellung kann nur einen bruchstückhaften Eindruck von dem immensen Material vermitteln, das der Sammler und Beobachter Johnson angehäuft und verarbeitet hat, von dem intensiven Studium der 'New York Times‘, der Rekonstruktion der Geschichte einer gesamten Region von der Weimarer Republik über den Faschismus bis in die sechziger Jahre hinein, vom Alltag im unüberschaubaren New York. Ein im letzten Teil der Ausstellung gezeigtes Foto von Johnsons Arbeitszimmer, das in seiner Nüchternheit eher einer Amtsstube glich — mit akkurat in Regale eingepaßten Leitz-Ordnern —, läßt die akribische Arbeitsweise des Autors immerhin ahnen, sein penibles Bedachtsein auf jedes Detail sowie auf Ordnung, ohne die die Jahrestage schwerlich zustande gekommen wären.

Auf seiner letzten Station ist der Grenzgänger Johnson Engländer geworden. Er lebt in dem Küstenort Shearness-on-Sea, nennt sich »Charles Henry« und hat seinen festen Platz im Pub an der Ecke, wo er, wie zeit seines Lebens, Mitmenschen und Umgebung beobachtet, sich Notizen macht. In diese Periode fällt auch seine schwere persönliche Krise, deren Folge eine langandauernde, die Arbeit an den Jahrestagen unterbrechende Schreibhemmung ist. Zwei Portraitaufnahmen aus dieser Zeit zeigen Johnson um Jahrzehnte gealtert, müde, verbraucht, greisenhaft — obwohl er zu dieser Zeit keine 50 gewesen ist.

Dem Besucher — sofern er nicht ohnehin in die Biographie des Schriftstellers eingeweiht ist — bleibt es ein Rätsel, was im Laufe nur weniger Jahre geschehen ist. Die Ausstellung gibt darauf keine Antwort, wie überhaupt die private Seite Johnsons weitgehend ausgeklammert bleibt. Was die »Krise« anbelangt, beläßt man es bei der körperlich-organischen Folge, einer »Beschädigung der Herzkranzgefäße«.

Mag sein, daß diese vornehme Zurückhaltung vor der Person Johnsons dessen eigener Rücksicht auf das Privatleben anderer geschuldet ist. Doch für das letzte Lebensjahrzehnt des »gebeugten Riesen« wirkt die Ausstellung so kaum erhellend. Thomas Rothermel

Bis 3. Mai, jeweils 10-19 Uhr, montags ab 13 Uhr in der Akademie der Künste, Hanseatenweg.