Die Wüste fehlt

■ Der Philosoph Peter Sloterdijk offenbarte sich einmal mehr als Morgenlandfahrer

Schmerzlich vermißt wurde Schwester Martha an der Hammondorgel, nirgends zugeknöpfte, dabei gewißlich zarte Mädchen in Reformkleidern, die den weitum berühmten protestantischen Tee gereicht hätten, und von den Hamburger Großintellektuellen (gibt's die?) war allein Freimut Duve erschienen, dennoch wurde die vorösterliche Einkehr ein rechtes, leicht unzeitgemäßes, dafür aufs schönste Pfingsten präludierendes Erweckungserlebnis. Denn auf einer seiner seltenen Missionierungsreisen war der inzwischen in Karlsruhe zum Professor erhobene Freidenker Peter Sloterdijk nach Hamburg in die Evangelische Akademie gekommen, um über das Tempolimit zu referieren. Die Medien sind schnell — die Religion braucht Zeit — lautete das Thema seiner Predigt, das er so zielstrebig verfehlte, daß dem versammelten Spätnachmittagspublikum vor Staunen der Mund offen blieb — nur das Reden in ausländischen Zungen blieb aus.

Exakt das ihm neuerdings zugestande akademische Viertel nutzend betrat, einen wegbereitenden Täufer zur Seite, ein immer noch langhaariger Herr im grauen Schullehreranzug, mit abgelatschten Mephisto-Schuhen, aber immerhin einem silbrig blinkenden Kettchen auf dem schwarzen Pulli, den Saal. Sogleich gestand er eine ontologische Aporie ein: Sollte er nun ein Manuskript über die Apostolische Mobilmachung oder ein anderes zur Anachoretischen Revolution vortragen? Am Ende pflückte er aus beiden die schönsten Lesefrüchte und schien sich im atemlosen philosophischen Kanthakenschlagen hasenmäßig selber zu überholen.

Sloterdijk spricht nicht nur geläufig die Mundart des Großen Vorsitzenden, er aspiriert auch ähnlich asthmatisch wie Franz Josef Strauß, wartet wie der Dahingeschiedene auf das Detonieren der Pointen und neigt wie jener dazu, in einer einzigen Rede alle Welträtsel aufzuwerfen, sie im Vorübergehen zu lösen und dabei jeden Verdacht von Systematik zu vermeiden. Sloterdijk ist in einer Person eine Talkshow mindestens zu vieren, nur daß mit diesem moussierenden Philosophen verglichen, um ein letztes Mal auf den Retter der DDR zu rekurieren, allen anderen bestenfalls die Qualität von „Reclam-Ausgaben“ eignet.

Die langsamkeitspietistische Wendung der neueren (evangelischen) Theologie, mit der die Schnelligkeit der Medien kompensiert werden soll, widerspräche dem Geist und Buchstaben der Evangelien: quasi im Kontaktzauber habe Jesus seine Jünger pneumatisch mobilisiert, Sloterdijks unmittelbarer Vorläufer, der hl. Paulus, gar einen „Amoklauf des Heils“ (David Ben-Chorin) hingelegt. Die Langsamkeit, damit die Revolutionsgeschichte des Menschen, beginne im vierten nachchristlichen Jahrhundert in der ägyptischen Wüste bei den Eremiten. Dort konstituiere sich ein Mensch, der es darauf ankommen lasse, das Verhältnis Gott-Seele wie 1:1 zu sehen, die Welt gehe verloren, werde weggekürzt: eine psychohistorische Neuheit.

Der nach Antonius bekannteste Eremit, Simeon der Stylit (weil er es Jahrzehnte auf einer Säule aushielt), zog Heerscharen von commystis (hier: Neugierigen) an. Die Vereinigung mit Gott verlangt die Aufmerksamkeit der Zuschauer, für Sloterdijk ein indireker Gottesbeweis. Die Beweisnot sei erst eingeteten, als derartige Verschmelzungserlebnisse rar wurden. Deshalb gebe es auch keinen Göttinnenbeweis. Mit der Göttin verschmilzt man, ohne sie sich beweisen zu müssen. Der Voyeurismus komme deshalb womöglich aus der Religion.

Die westliche Zivilisation habe sich damals gegen das Prinzip Wüste und für das Prinzp Arbeit entschieden. Heute, wo uns die Wüste fehlt, müsse die weiterwesende weltflüchtige Energie in die Welt zurückgespeist werden. Sloterdijk plädiert für eine Errettung der radikal dyadischen Psychotheologie der Anachoreten Oberägyptens, für, und da wirkt er wie kaum zurück aus dem Ashram, eine Liebesaffäre zwischen Seele und Gott. [Da wüßt' ich mir auch was Besseres — d. Verf.] Der junge Augustinus habe davon noch gewußt, habe von deum et animam, von Gott und der Seele gesprochen.

Gott habe heutzutage kaum mehr Möglichkeiten, sich zu offenbaren, er müßte sich denn ins große Netz einspeisen. Damit wäre, kein schlechter Schluß, Ronald Reagan, dem Großen Kommunikator, die größte Gottähnlichkeit zuzubilligen.

Die Seele spricht, wenn sie denn spricht, in den Unterbrechungen, vulgo: Störungen, die nervöse Katastrophe sei als Chance zu begreifen, kurz: Die Seele ist, was sich nicht vermittelt. Sloterdijk wirbt deshalb für Catherine Clements Erschütterungs- und Unterbrechungsphilosophie, für ihn das Vademecum ins 21. Jahrhundert.

Sloterdijk beruft sich auf den Brasilianer Raimondo Panikar und wünscht sich eine Universalisierung des monastischen Faktors. Sein eigenes Projekt der letzten Jahre, seit er die kynische Vernunft wieder in die Welt gebracht hat, ist die A-Kosmologie. Sein neues Buch wird deshalb auch Weltfremdheit heißen.

Obwohl er diesmal erfreulich wenig Gnosen ins Feld führte, auch von Zukünften und Gegenwarten erstaunlich stille schwieg, geht es nicht ohne Mystik. Im Zweifel ist die Sloterdijks auch besser als die des Großen Ohrs Joachim Ernst Behrendt, wenn er in der europäischen Hochmusik vom 17. bis zum 19. Jahrhundert den dyadischen Mystizismus wirken sieht. Musik sei wiederum getarnte Weltflüchtigkeit, der Walkman ein freigegebenes Drogenerlebnis.

Sloterdijk gedenkt das Projekt der Aufklärung, soweit er es von der Frankfurter Schule geerbt hat, fortzusetzen, indem er ihre Religionskritik als neue Religion propagiert.

Auch zu den jüngsten Landtagswahlen weiß der Philosoph etwas zu bemerken. Eine massenhafte Demission aus dem politischen Raum finde statt. Die a-kosmische (nochmal langsam zum Mitschreiben: weltlose) Dimension setze regenerative Kräfte frei; schließlich sei der Mensch ein Schlaftier, kein Wachtier.

Nebenher langte es noch zu Glossen zum Programm des Österreichischen Fernsehens und zu ein wenig Unseld-bashing. Sloterdijks Verleger verweigerte nämlich eine Neuausgabe von Hugo Balls Flucht aus der Zeit mit dem Argument, der Titel sei wenig verkaufsfördernd.

Mala und Bhagwan und Morgenland, alles egal: Ohne Sloterdijk denken wir auf Anhieb dümmer, deshalb, es muß sein: mit ihm, vorwärts, zurück in die Zukünfte. Willi Winkler