Unendliche, endgültige Wüste

Die Bedrohung der arabischen Literatur im 20. Jahrhundert  ■ Von Hassouna Mosbahi

Die Geschichte hat es erwiesen: Wann immer der religiöse Fanatismus sein finsteres Haupt erhob, waren die Literatur, die Kunst und die Gedankenfreiheit bedroht. Niemals zuvor in der arabisch-muslimischen Welt waren sie es mehr als heute. Seitdem die Mullahs im Iran die Macht übernommen haben, breiteten sich fundamentalistisch-islamistische Gruppen in fast allen arabischen Ländern aus — in Ägypten, Jordanien, in den besetzten Gebieten, in Tunesien, Algerien und anderswo. Angriffe auf Schriftsteller, Dichter, Sänger und feministische Organisationen sind an der Tagesordnung und nehmen immer schärfere Formen an. Die herrschenden Regimes sind nicht mehr imstande, der Plage Herr zu werden, die Katastrophe aufzuhalten. Viele der Intellektuellen — Schriftsteller, Historiker, Philosophen und Kunstschaffende — haben inzwischen aus Angst vor der Bedrohung ihrer Freiheit und ihres Lebens das Exil gewählt. Diejenigen, die geblieben sind, schlugen hin und wieder Alarm oder verfielen in Schweigen und Resignation. Zur Beschreibung der augenblicklichen Situation sei an einige Fälle aus der jüngsten Vergangenheit erinnert:

Ende des vergangenen Jahres hatte das Militärgericht von Kairo den Schriftsteller Alaa Hamed für seinen Roman Reise im Kopf eines Mannes zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Einige Mitglieder der theologischen Universität Al-Azhar und die Anführer verschiedener fundamentalistischer Gruppen betrachteten diesen Roman als „Verunglimpfung (des Lebens) der Propheten“. Auch der Verleger des Buches, Madbuli, der in Ägypten und in der ganzen arabischen Welt für seine Aufgeschlossenheit und sein großes Engagement für die Literatur bekannt ist, wurde angeklagt. Dieser ungeheuerliche Prozeß, für den es in Ägypten seit den zwanziger Jahren kein vergleichbares Beispiel gab, löste unter den ägyptischen und arabischen Intellektuellen einen Sturm der Entrüstung aus. In einem aufsehenerregenden Artikel, der am 1. Januar 1992 in der führenden Kairoer Tageszeitung 'Al-Ahram‘ erschien, hatte der Dichter und Chefredakteur der Literaturzeitschrift 'Ibdaa‘ den Zorn und die Empörung aller freiheitlich Gesinnten Ausdruck verliehen, die gegen Fanatismus und Intoleranz kämpfen. Er schrieb: „Dieses Urteil gegen den Schriftsteller Alaa Hamed hat Angst und Schrecken in den Reihen der ägyptischen Intellektuellen ausgelöst. Es hat ihren Hoffnungen und ihrem Kampf für eine auf der Achtung der Meinungsfreiheit basierenden neuen Kultur einen schweren Schlag versetzt. Nun werden auch wir mit den iranischen Fanatikern gleichgesetzt, die offiziell verkündeten, daß sie demjenigen, der Salman Rushdie tötet, eine Riesensumme zu zahlen bereit sind. Auch früher schon wurden einige unserer Schriftsteller wie Taha Hussein, Naguib Mahfus, Al Akkad, Yussuf Idriss, Taufiq al Hakim und viele andere von den Fanatikern als Häretiker bezeichnet. Doch die Absurdität dieser Anschuldigungen wurde durch die Zeit längst entlarvt.

Verbrennung von Tausendundeiner Nacht

Aus diesem Grunde appelliere ich an den Präsidenten der Republik persönlich, die ägyptische Kultur gegen das tragische Geschick zu verteidigen, das sie zu ereilen droht.“

Dem Prozeß und der Verurteilung Alaa Hameds waren in den letzten Jahren schon andere Attacken auf Schriftsteller und die Freiheit der Meinungsäußerung vorangegangen — in Ägypten und in verschiedenen arabischen Ländern. 1988 hatten die

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Moslembrüder versucht, eine Neuauflage des berühmten Romans Die Kinder unseres Viertels von Naguib Mahfus zu verhindern. Auch dieser Roman des gerade mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Ägypters stellte ihrer Meinung nach eine „Verunglimpfung der Propheten“ dar. Einer der Führer des radikalen fundamentalistischen Flügels „At- Tafkir wal Higra“ hatte sogar dazu aufgerufen, Naguib Mahfus umzubringen. Wenige Jahre zuvor, 1985, hatten die ägyptischen Fundamentalisten die Verbrennung einer gerade erschienenen erweiterten Ausgabe von Tausendundeine Nacht gefordert. Das Meisterwerk der arabischen Literatur stellte für sie ein „perverses und für den Islam und die Muslime unheilvolles Dokument“ dar. Im selben Jahr spielte sich jene Affäre ab, die von der in London erschienenen (und von dem liberalen Intellektuellen Riad el Rayyes geleiteten) Literaturzeitschrift 'Annakiv‘ in ihrer Nummer vom 1. Juli 1988 als der „Krieg der Kassetten“ bezeichnet wurde! Der Hintergrund der Affäre war folgender: In Saudi-Arabien, der Bastion der religiösen Theokratie, und in anderen arabischen Ländern war eine Kassette im Umlauf, auf der die Fundamentalisten dazu aufriefen, „die liberalen, verwestlichten Intellektuellen, Kommunisten, Homosexuelle, Heuchler, Existenzialisten, und Feinde“ umzubringen, die „ihre Häresien in den verschiedensten Formen der Literatur: Poesie, Novelle, Roman, Literaturkritik, Essay und anderen“ propagierten. Zu den Hauptadressaten dieser Kassette und ihrer Urheber gehörten: der große libanesische Dichter und Essayist Adonis, der irakische Dichter Abdelwahhab al-Bayati, der ägyptische Literaturkritiker Ghali Schukry, der palästinensische Dichter Mahmoud Darwisch, der tunesische Historiker und Philosoph Hischem Djait und der palästinensische Romancier und Essayist Emili Habib. Auch europäische „Häretiker“ waren auf der Todesliste — zum Beispiel: Sartre, Camus, Tschechow, Hemingway, Grass, Saint Jean Perse, Descartes sowie Charles Dickens. Nichts könnte besser die Ignoranz in Sachen Literatur beweisen als die Tatsache, daß auch Oliver Twist als Autor auf der Todesliste stand!

In den achtziger Jahren, und besonders am Ende der Ära Bourgiba (1982 bis 1987), nahmen die Angriffe der tunesischen Islamisten auf Dichter und Schriftsteller, die es gewagt hatten, ihre Stimme gegen die drohende integristische Gefahr laut zu erheben, in zuvor nie gekanntem Ausmaß zu. Die bärtigen Gesellen beschränkten sich nicht mehr auf bloße Verbalinjurien. Der Dichter Ouled Ahmed wurde mehrmals von Unbekannten auf dem Weg zu seinem Haus überfallen und zusammengeschlagen. Zwei tunesische Intellektuelle, Salim Dawla und Ziad Krischen, konnten nur durch die energische Intervention verschiedener demokratisch gesinnter Persönlichkeiten und Institutionen einem Gerichtsverfahren entgehen, nachdem sie in der Wochenzeitschrift 'Le Maghreb‘ eine Folge erotische Texte veröffentlicht hatten — Auszüge aus diesen Werken berühmter arabischer Klassiker wie al-Gahiz und Al-Isfahani.

Noch bevor der Imam Khomeini das Todesurteil über Salman Rushdie (für seinen Roman Satanische Verse) verhängte, hatten einige Schriftsteller und Denker ihre geistige Unabhängigkeit bereits mit dem Leben bezahlt. Der erste war Scheich Sobhi Salah, der im Libanon als der meistgeachtete und einflußreichste Vertreter islamischen Denkens galt. Die radikalen Anhänger der Hizballah schossen ihn auf offener Straße in Beirut nieder, weil er immer wieder ihre Intoleranz kritisiert hatte. Ein Jahr später ereilte die beiden marxistischen Intellektuellen Mahdi Amel und Hussein M'Roua das gleiche Schicksal.

Derartige Vorfälle waren in den letzten 15 Jahren in verschiedenen Ländern, begleitet von rigorosen Maßnamen, die nichts anderes zum Ziel hatten, als die Freiheit der Meinungsäußerung und der Kunst einzuschränken, den Druck auf Abtrünnige zu verstärken. Eine Reihe von Büchern wurden aus religiösen oder politischen Gründen auf den Index gesetzt: der Roman des sudanesischen Schriftstellers Tayyeb Saleh Zeit der Auswanderung in den Norden, Das nackte Brot des marokkanischen Romancier Mohammed Schukri, die Gedichte des im Pariser Exil lebenden Dichters Adonis — und selbst die Werke berühmter arabischer Klassiker wie Abu Nuwas, al-Gahiz, al-Ma'arri, Abu Hayyen Al-Tauhidi, Averroes und der großen Mystiker wie Ibn Arab, al-Hallaj und viele andere. Der syrische Schriftsteller Zakarya Thameur war gezwungen, ins Londoner Exil zu gehen, weil er es gewagt hatte, in der Zeitschrift 'Al Maarifa‘, deren Chefredakteur er war, einen Text des berühmten arabischen Soziologen und Historikers Ibn Khaldun (1332 bis 1406) zu veröffentlichen, in den die Autoritäten seines Landes eine versteckte Kritik an der absolutistischen Machtausübung Hafez al-Assads zu erkennen glaubten.

Während des iranisch-irakischen Krieges hatte Saddam Hussein die Indizierung mehrerer klassischer Werke angeordnet — wie beispielsweise Das Buch der Lieder von Isfahani, Die Goldwiesen von al-Mas'udi — nur weil die beiden Autoren persischer Abstammung waren. Er hatte sogar die Absicht, die Statue des berühmten Dichtes der abbasidischen Epoche, Abu Nuwas, zu zerstören, der gleichfalls persischen Ursprungs war. Nur durch die mutige Kampagne einiger irakischer Dichter und Intellektuellen, die zwar dem Regime nahestanden, sich aber trotzdem dieser abscheulichen Maßnahme widersetzten, konnte die Demontage eines der großartigsten Vertreter der Glanzzeit islamischer Kultur verhindert werden.

Der tiefste Punkt seit zwanzig Jahren

Unter dem Druck fanatischer islamistischer Gruppen und Saudi-Arabiens, ihrem wichtigsten Partner, üben die meisten Zeitungen und Zeitschriften eine strenge Zensur aus. Dieser systematisch betriebenen Zensur fällt jedes Wort, das eine erotische Anspielung, der eine versteckte Kritik an der Politik oder der Religion enthält, zum Opfer — wenn es nicht schon der Selbstzensur des Autors anheimgefallen ist. Es gibt nur noch ganz wenige Zeitungen oder Zeitschriften, die es wagen, gegen den Strom zu schwimmen.

Angesichts dieser Situation ist die literarische und künstlerische Kreation in der arabisch-muslimischen Welt auf ihrem tiefsten Punkt seit fast zwanzig Jahren angelangt. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts hatte sich das literarische und künstlerische Schaffen, das aus dem Schock der Napoleonischen Expedition nach Ägypten (1789 bis 1799) hervorgegangen war, im fieberhaften Kampf gegen alle möglichen Formen religiöser und politischer Repressionen entfaltet. Die ersten arabischen Intellektuellen, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an europäischen — vor allem an französischen — Universitäten studiert hatte, strebten nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer eine kulturelle, politische und religiöse „Renaissance“ an. Wortführer der reformwilligen arabischen Intellektuellen war der Ägypter Rifaat at-Tahtawi (1801 bis 1873). Seit dem Erscheinen seines berühmten Buches Reise nach Paris, in dem er mit großem Enthusiasmus von der Freiheit der Presse und der Meinung, dem europäischen Theater, der Institution des (in der arabischen Welt bis dahin unbekannten) „Parlaments“, dem wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritt und der sozialen Gerechtigkeit in Frankreich berichtet, wurde er von den konservativen Köpfen der „Azhar“- Universität bezeichnet. Noch heute ist der große Aufklärer Taha Hussein Zielscheibe und meistverachtete „Referenz“ der Islamisten, wenn es darum geht, über demokratisch und liberal gesinnte Intellektuelle herzufallen.

Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts hatte die Reformbewegung — von vielen arabischen Kritikern und Historikern als „Renaissance“, arabisch: Nahda, bezeichnet — sich immer weiter ausgedehnt und fand vor allem in den gehobenen Schichten der Großstädte ein großes Echo. In Beirut, Kairo, Tunis und Damaskus erschienen die ersten Zeitungen und Zeitschriften, die von den großen Reformern wie Abdullah An- Nadim (1845 bis 1897), Gamaleddin al-Afghani (1838 bis 1897), Abdulrahman al Kawakibi (1849 bis 1902) herausgegeben wurden und die ganz unverhohlen die „Krankheiten des Orients“ — Absolutismus und Immobilismus — anprangerten und die traditionalistischen „Ulemas“ attackierten, die jeden Versuch, den Islam zu modernisieren, als einen schweren und gefährlichen Angriff und eine Verleumdung des Wortes Gottes und seines Propheten betrachteten.

Mohammed Abdu (1849 bis 1905) — ein anderer großer Reformer — hatte, als Mitglied der „Ulemas“ der Al-Azhar, sogar gewagt, nach seiner Rückkehr aus Paris öffentlich zu erklären, „daß die Prinzipien des wahren Islam in den Ländern der Ungläubigen“ sehr viel mehr beachtet und angewendet würden. Die Ewiggestrigen der Azhar fielen über ihn her und haben immer wieder versucht, ihn wegen seiner Ideen und Vorstellungen vor Gericht zu stellen. Im Bereich der Dichtung und der Literatur hat diese große Erneuerungsbewegung, von der die gesamte arabische Welt von Marokko bis nach Pakistan erfaßt und erschüttert wurde, keine großen Früchte gezeitigt. Doch sie hatte eine starke Auswirkung im Bereich der Presse und in den gesellschaftlichen und politischen Ansätzen der Kritik.

Tausende von Studenten, Millionen von Lesern

Die Geburtsstunde der eigentlichen modernen arabischen Literatur schlug erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Sie zeichnete sich zunächst in den Werken des Ägypters Taha Hussein ab, der später als der Doyen der modernen arabischen Literatur galt. Als Naguib Mahfus im Jahre 1988 als erster Araber mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, war sein erster Kommentar: „Er“ — nämlich Taha Hussein — „hätte ihn längst vor mir verdient!“ Drei Generationen von Schriftstellern, darunter auch Naguib Mahfus, sehen und verehren in „ihm“ ihren großen Lehrmeister. In seiner berühmten Biografie mit dem arabischen Titel Die Tage hatte Taha Hussein, Sohn einer Familie von Bauern aus Oberägypten, der mit zwei Jahren das Augenlicht verlor, jene Jahre beschrieben, in denen er sich im Rhythmus des Korans und religiöser Lieder durch sein junges Leben tastete. Später — als Student der „Azhar“ — rebellierte er gegen die an der Azhar lehrenden Ulemas und denunzierte ihre Ignoranz sowie ihre veralteten Lehrmethoden. Anfang der zwanziger Jahre ging er nach Paris, um an der Sorbonne zu studieren, und fand Zugang zu den literarischen Zirkeln Frankreichs. 1924 kehrte er, fasziniert von der europäischen Kultur, nach Ägypten zurück. Unter dem Einfluß des cartesianischen Denkens verfaßte er seine Doktorarbeit über Die vor-islamische Poesie. Er vertritt darin die These, daß der Koran keine Offenbarungsschrift, vielmehr ein vom Propheten Mohammed selbst verfaßtes Werk sei. Für die traditionalistischen Azhar-Ulemas und viele konservative Intellektuelle war Taha Hussein von nun an ein notorischer Häretiker. Auch ihm wurde der Prozeß gemacht. Doch Taha Hussein hörte nicht auf bis an sein Lebensende — er starb 1973 —, gegen die Obskuranten und Fanatiker zu kämpfen. Fast ein halbes Jahrhundert hatte er die kulturelle Szene in Ägypten und in der arabischen Welt beherrscht. Tausende von Studenten hatten seine Vorlesungen an der Kairo-Universität besucht, deren Rektor er lange Zeit gewesen ist. Seine Zeitungsartikel, Essays und Erzählungen wurden von Millionen von Lesern in der ganzen arabischen Welt verschlungen. 1938 hatte er ein Buch veröffentlicht mit dem Titel Die Zukunft der ägyptischen Kultur, in dem er die These vertrat, daß der Islam nicht die einzige Quelle der ägyptischen Kultur sei, daß die ägyptische Kultur vielmehr auch aus pharaonischen, griechisch-bynzantinischen und europäischen Elementen hervorgegangen sei. Wieder forderte er den Zorn der Traditionalisten heraus. Doch dieses Mal verhallte ihr Ruf nach Verurteilung des Abtrünningen im Nichts. Der längst in der ganzen arabischen Welt berühmte „Häretiker“ war unantastbar geworden und konnte seinen Widersachen die Stirn bieten.

Der Haß der Bärtigen gegen Taha Hussein flackert immer wieder von neuem auf, wenn von ihm die Rede ist. Auf dem zu seinen Ehren alljährlich von der Universität der Stadt al- Minia veranstalteten Festival gingen fundamentalistische Teilnehmer vor ein paar Jahren so weit zu behaupten, Taha Hussein sei „ein zionistischer Spion des Mossad, und seine Bücher hätten nur das eine Ziel: den Islam zu vernichten!“ Diejenigen, die Widerspruch gegen eine solch absurde Unterstellung erhoben, wurden des Saales verwiesen.

Ein anderer Zeitgenosse Taha Husseins, der Jurist Ali Abdul Razak, wurde ebenfalls von einem ägyptischen Tribunal verurteilt, nachdem im Jahre 1925 sein Buch Der Islam und die politische Herrschaft (Macht) erschienen war. Ali Abdul Razak hatte in diesem Werk auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Religion von der Politik zu trennen. Dieses Thema — nämlich die Trennung von Politik und Religion — ist bis heute das grundsätzliche Problem in der Auseinandersetzung zwischen Fundamentalisten und Liberalen. Zwischen den beiden Weltkriegen hatte die reformistisch-nationalistische Bewegung, die stark vom westlichen Denken beeinflußt war, vorübergehend an Boden gewonnen. Die Fundamentalisten waren in die Defensive geraten. Sie fanden weder bei den Massen, die gerade im Kampf um die Unabhängigkeit ihrer Länder begriffen waren, noch bei der jungen Generation, die ihre Hoffnung in die westlichen Ideale von Freiheit, Demokratie und Fortschritt setzten, ein Echo. In den fünfziger Jahren erlebte diese modernistisch-reformerische Bewegung einen neuen Aufschwung. In Beirut, dem damaligen intellektuelllen Zentrum der arabischen Kultur, schloß sich eine Gruppe von Schriftstellern und Dichtern, die alle an europäischen Universitäten studiert hatten, zusammen und gründeten die Zeitschrift 'Schi'ir‘. Mehr als zehn Jahre lang war diese Zeitschrift das Sprachrohr aller freiheitlichen Stimmen und Plattform aller modernistischen Tendenzen innerhalb der arabischen Welt.

Es war die Zeit (1950 bis 1967), in der die meisten arabischen Länder ihre nationale Unabhängigkeit erreicht hatten. Der politischen Befreiung folgte auch eine kulturelle. Die arabische Literatur entfaltete eine nie zuvor gekannte Vielfalt in den Bereichen der Poesie und des Romans. Die Dichter der Zeitschrift 'Shi'ir‘ machten sich selbst an die Arbeit. Sie übersetzten Garcia Lorca, Artur Rimbaud, Lautréamont, Eluard, Henri Bréton, T.S. Eliot, Hölderlin, Rilke und viele andere. In ihren eigenen Gedichten wehte der Atem der Freiheit und eines Enthusiasmus, der die gesamte arabische Welt ergriff. Der große Dichter Badr Schaker Essayyab, der 1964 an Tuberkulose starb, träumte in einem seiner berühmtesten Gedichte von einem großen Regen, der den Frühling mit sich bringen und den langen arabischen Winter für alle Zeiten vertreiben würde. Adonis veröffentlichte einen Gedichtband mit dem Titel Die Gesänge des Damaszeners Mihyar, der die arabische Poesie von Grund auf revolutionierte. Mit diesem Gedichtband war Adonis, der seit ihrer Gründung zum Dichterkreis der Revue 'Shi'ir‘ gehörte, nach dem französischen Literaturkritiker André Velter „ins Herz (Innerste) der Poesie vorgedrungen, indem er alles Überkommene hinter sich ließ, alle Grenzen überschritt, den Pulsschlag eines neuen Lebens vorwegnahm, den dunklen Schleier durchbrach, um in der Nacht der Zeiten das Morgenrot zu erkennen“.

Als die Fanatiker verloren

Fast zur gleichen Zeit war Naguib Mahfus' berühmte Trilogie erschienen, die Taha Hussein als das erste große Romanwerk der arabischen Literatur bezeichnete. Die Libanesin Leila Baalabakki veröffentlichte ihren erotisch akzentuierten Roman Jevis, den die meisten Kritiker für wesentlich kühner hielten als Fran¿oise Sagans Bonjour Tristesse! Die Islamisten empörten sich lauthals und riefen dazu auf, die ehebrecherische Autorin zu steinigen. Doch sie fanden keinerlei Resonnanz bei den Massen und gaben schließlich klein bei. Sie wurden des freiheitlichen Steppenbrandes, der an allen Fronten aufloderte, nicht mehr Herr: In Ägypten hatte der Cinéast Jussuf Shahine seinen berühmten Film Hauptbahnhof gedreht, in dem er die sexuellen Obsessionen eines Eisenbahners schilderte. Der tunesische Schriftsteller Ezzedine al-Madani ging sogar so weit, sich am Beispiel einer Person, die ihr Gedächtnis verloren und ihre Muttersprache vergessen hat, über den Koran lustig zu machen. Auch die tunesischen Fanatiker hatten die Schlacht längst verloren und wurden ausgepfiffen.

Die katastrophale Niederlage der arabisch-ägyptischen Armeen im Sechstagekrieg gegen Israel des Jahres 1967 machte dem intellektuellen Aufschwung und dem kreativen Elan der fünfziger und frühen sechziger Jahre ein jähes Ende. Die an den Rand gedrängten Fanatiker nützten die politische Niederlage der progressiv-modernistischen Staaten — wie etwa Ägyptens — aus und erschienen mit neuen Parolen und Feindbildern auf der Szene. Es war ein Leichtes, den enttäuschten und erniedrigten Massen einzureden, die Schuld an der Niederlage sei in der Abkehr vom „wahren Glauben“ zu suchen. Mit anderen Worten: Als Sündenbock bot sich ihnen die modernistisch ausgerichtete Reformbewegung an, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sich wie ein frischer Frühlingswind über die ganze arabische Welt ausgedehnt hatte. Sie wurde nun verantwortlich gemacht für die Niederlage gegenüber den „satanischen Mächten“. Und dieses Mal fanden sie bei den Massen wieder Gehör, die langsam ihr Vertrauen in die herrschenden Regimes — vor allem die sozialistisch-laizistischen — und damit auch in ihr nationales Idol Abdel Nasser verloren hatten. Mehr noch: Viele Intellektuelle, die gestern noch zu den Anführern des Kampfes um eine säkulare Gesellschaft gehörten, kehrten zurück in den — politisch instrumentalisierten — „Schoß des Islam“.

Die neue fundamentalistische Woge fand ihren besten „Sponsor“ in Saudi-Arabien und seinen immer reichlicher fließenden Petrodollar. Sie flossen ebenso reichlich in die Verteilungskanäle der fundamentalistischen Agitation. Ungezählte islamistisch-fundamentalistische Gruppen entstanden und breiteten sich wie Pilze über die ganze arabisch-muslimische Welt aus. Immer mehr Intellektuelle wurden zu „Opfern dieser großen Regression“, wie der ägyptische Philosoph Louis Iwad (der 1990 starb) es nannte. Der erste unter ihnen war der syrische Philosoph Sadok Jalal al-Adam. Sein Buch Kritik

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des religiösen Denkens wurde als Angriff auf die Fundamente des Islam bezeichnet, und al-Adam wurde vor Gericht gestellt. Obwohl die Anklage von der Justizbehörde in Beirut abgewiesen wurde, war dieser Prozeß ein Vorspiel, eine Art „Test“ für den zukünftigen „Heiligen Krieg“ der Fundamentalisten gegen laizistische und liberale Schriftsteller und Intellektuelle.

Sadok Jalal al-Adam sollte nicht das einzige Opfer bleiben. Im gleichen Jahr — 1969/70 — wurde der Dichter Adonis gleichfalls in Beirut vor Gericht gestellt und verurteilt. Das Urteil galt seiner Doktorarbeit über das Thema Das Veränderliche und das Beständige im islamischen Denken. In dieser wissenschaftlichen Untersuchung hatte Adonis lange Textpassagen des großen atheistischen Philosphen des zehnten Jahrhunderts, Ibn Arrawandi, zitiert, der sich über den Koran mokiert und auf die Widersprüche in den Aussprüchen und im Verhalten des Propheten Mohammed hingewiesen hatte. Im gleichen Jahr war es Saudi- Arabien gelungen, den demokratischen Staat Libanon dazu zu überreden, den saudischen Philosophen Abdullah al-Qusaimi auszuweisen, der in fast allen seinen Werken des islamischen Fanatismus und das „korrupte wahbatische Königreich“ heftig angegriffen hatte.

Im Augenblick hat es den Anschein, als hätten die Fundamentalisten ihren rüden Kampf gegen fortschrittlich-laizistische Intellektuelle gewonnen. In allen arabischen Ländern breiten sich Angst, Demagogie, Immobilismus und hoffnungslose Verzweiflung aus. Die schwere Krise, die die arabische Welt im Augenblick durchläuft, führt immer neues Wasser auf die Mühlen der Obskurantisten. Katastrophen — wie etwa der Golfkrieg —, die Unfähigkeit und Ohnmacht der herrschenden Regimes, die Hilflosigkeit und Einschüchterung der Intellektuellen beschleunigen den Prozeß, der die verzweifelten Massen in die Arme der fundamentalistischen Rattenfänger treibt. Wenn es nicht zu einem plötzlichen Erwachen kommt, so führt der Weg in die Wüste. In eine unendliche, endgültige Wüste.

In einem Gedicht mit dem Titel Spiegel eines Tyrannen schrieb Adonis:

Ähre um Ähre

laßt keine stehen ...

Diese Ernte ist unser wiedergefundenes Paradies

Das Land unserer Zukunft.

Reißt die Herzen auf — vor allem anderen

Zieht die Wurzeln heraus

Verändert diese Scholle

aus der sie gekommen sind.

Löscht aus die Zeit

die ihre Geschichte erzählt,

verdunkelt den Himmel,

der sich zärtlich über sie beugte,

Ähre um Ähre

Auf daß die Erde

zurückkehre in ihren Urzustand ...

Ähre um Ähre ...

Übersetzung: Erdmute Heller