„Pawlowsche Reflexe auf die RAF“

■ Bundesjustizminister Klaus Kinkel glaubt an die Möglichkeit, die Spirale der Gewalt zu beenden „Wie sich die Dinge entwickeln werden, hängt auch sehr stark von den Gefangenen ab“

taz: Herr Kinkel, nach über 20 Jahren weckt die RAF Hoffnungen auf ein Ende des bewaffneten Kampfes. Ihr süddeutscher Koalitionspartner schließt sich daraufhin mit führenden Repräsentanten der SPD-Opposition zu einer mittelgroßen „Anti- Versöhnungs-Koalition“ zusammen. Gibt es in Bonn kein Mittel gegen Pawlowsche Reflexe?

Klaus Kinkel: Ganz so würde ich es nicht sehen. Ich mußte damit rechnen, daß der CSU-Teil der Koalition dem, was sich jetzt abzeichnet, nicht ganz unkritisch gegenübersteht. Bei der SPD habe ich mich, ehrlich gesagt, über ein paar Stimmen etwas gewundert. Aber ich glaube nicht, daß man von einer CSU/SPD-Koalition gegen Kinkel sprechen kann. Das Wort von den Pawlowschen Reflexen finde ich nicht so ganz falsch.

Nochmal im Ernst, der Kanzler hat Ihnen aus seinem Urlaubsdomizil den Rücken gestärkt. Haben Sie den Eindruck, daß auch im Kabinett ihre Linie mitgetragen wird?

Die RAF-Problematik ist in der Koalition und im Kabinett oft besprochen worden. Sie konnte seit der aktuellen Entwicklung der letzten Tage noch nicht erneut diskutiert werden. Ich gehe aber davon aus, daß die Grundlinie, die ich vertrete, auch von der Bundesregierung unterstützt wird. Ich lasse mich nicht durch die für mich zugegebenermaßen überraschende Entwicklung in Hektik versetzen. Ebensowenig werde ich mich zu verbalen Antwortschlachten auf für mich nicht nachvollziehbare Angriffe hinreißen lassen.

Sie sagen, die Erklärung des Untergrundkommandos habe Sie überrascht. Die ersten Risse im ideologischen Gebäude der RAF waren aber schon 1989 beim letzten Hungerstreik zu beobachten. Hätte es die Erklärung aus Ihrer heutigen Sicht nicht auch ein paar Jahre früher geben können, wenn man damals den Forderungen der Gefangenen nach Zusammenlegung ein Stück weiter entgegengekommen wäre?

Ich habe diese Risse in der Tat 1989 schon bemerkt. Es war das Ziel meiner damaligen Gespräche mit Frau Mohnhaupt und Herrn Pohl (Gefangene der RAF, mit denen Kinkel während des Hungerstreiks im Knast über eine Lösung verhandelte), genau das zu erreichen, was jetzt durch diese Erklärungen erreicht zu sein scheint. Mein Zusammenlegungsvorschlag in fünf Fünfergruppen ist seinerzeit aus politischen Gründen gescheitert. Er war einfach nicht durchsetzbar. Leider. Vielleicht waren wir damals schon nicht so sehr weit entfernt von dem, was sich jetzt abzeichnet.

Was macht Sie optimistisch, mit Ihrer Initiative jetzt mehr Erfolg haben zu können?

Ich hatte mich bei allen meinen Bemühungen in erster Linie auf die Inhaftierten konzentriert. Mich hat überrascht — und da mache ich überhaupt keinen Hehl draus —, daß diese Reaktion jetzt zuerst von draußen kam. Aus der Stellungnahme von Frau Möller schließe ich, daß die RAF-Inhaftierten sich der Erklärung von draußen anschließen.

Ist die nun entstandene Situation für Sie eine Gelegenheit, die 1989 begonnenen Gespräche beispielsweise mit Helmut Pohl und Brigitte Mohnhaupt fortzusetzen?

Wir sollten uns erstmal ruhig an die Analyse dieser Erklärungen setzen und dann mit allen Beteiligten nachdenken, wie zu reagieren ist.

Praktisch bedeutet der Brief des Untergrundkommandos, daß die RAF politisch, bezüglich ihrer bisherigen Mittel, kapituliert hat. Sie behält sich aber vor — für den Fall, daß es keine befriedigende Lösung der Gefangenenfrage gibt —, mit denselben gewalttätigen Mitteln weiterzumachen. Was tut die Bundesregierung konkret, daß es nicht nur bei einer Atempause bleibt?

Zunächst möchte ich auf folgendes hinweisen: Die RAF wird hinter das, was sie in dieser Analyse ihrer eigenen Situation sehr klar artikuliert, nicht zurückgehen können. Das würde ihr ausgesprochen schwer fallen. Gleichwohl bewerte ich natürlich auch den Schlußteil des Briefes, der die Frage der Inhaftierten zum Gegenstand hat. Dazu kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nur wiederholen, wir werden darüber nachdenken. Ich möchte keine Reaktionen vorschnell andeuten oder versprechen und dadurch womöglich schädliche Turbulenzen wecken. Wir haben nach zwanzig Jahren eines unglückseligen Kreislaufs der Gewalt ganz offensichtlich die Chance für eine Lösung. Die will ich behutsam und sensibel wahrnehmen. Auf Drohungen und Erpressungen reagiert die Bundesregierung allerdings nicht.

Hoffnungen und Erwartungen sind geweckt, bei den Gefangenen und im Untergund. Sonst gäbe es vermutlich diese Entwicklung nicht. Ihr Dilemma bestand in der Vergangenheit doch immer darin, daß Sie als Justizminister zwar eine „politische Lösung“ proklamieren können, aber umsetzen müssen sie andere. Zum Beispiel die unabhängigen Gerichte. Wie können Sie praktisch verhindern, daß die Initiative an anderer Stelle versandet?

Ich habe im Januar an die RAF appelliert, von ihrem schrecklichen Tun Abstand zu nehmen und hinzugefügt, dann sei auch der Staat mit seinen Möglichkeiten zur Versöhnung bereit. Das heißt, daß alles, was als Reaktion des Staates denkbar ist, sich im Rahmen der Gesetze bewegen muß. Theoretisch denkbar sind bedingte Entlassungen, Gnade, Änderungen der Haftbedingungen und so weiter. Undenkbar ist, politische Entscheidungen zu fällen, die mit unserem Rechtsstaat und mit dem Gesetz nicht in Einklang zu bringen sind.

Die RAF moniert in ihrem Schreiben, daß außer der Haftentlassung der Gefangenen Wannersdorfer, die in wenigen Monaten sowieso freigekommen wäre, keine weiteren Schritte zur Umsetzung Ihrer Initiative zu sehen sind.

Ich muß es so deutlich sagen: Das Ausloten dessen, was möglich ist, ist in mehrfacher Beziehung auch bei denjenigen, die es betrifft, nicht auf die notwendige Reaktion gestoßen. Die Rechtsvorschriften für eine vorzeitige Haftentlassung setzen eine Mitwirkungspflicht der Betroffenen voraus. Ohne diese können die gesetzlichen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden.

Im übrigen ist nicht nur Claudia Wannersdorfer freigekommen. In der Zwischenzeit wurden auch die Gefangenen Thomas Thoene und Thomas Kilppert aus der Haft entlassen.

Wenn die RAF jetzt, wie angekündigt, den bewaffneten Kampf einstellt, ist es dann noch notwendig, als Voraussetzung für die Prüfung einer Strafaussetzung ein wie auch immer geartetes „Abschwören“ zu verlangen?

Wie ich gesagt habe, die gesetzlichen Voraussetzung müssen erfüllt werden.

Parallel zur vorzeitigen Haftentlassung gibt es auch den Weg der Begnadigung. Haben sie in den letzten Tagen mit dem Bundespräsidenten geredet?

Der Bundesjustizminister spricht mit dem Bundespräsidenten öfter über alle möglichen Fragen, die sich aus dem jeweiligen Verantwortungsbereich ergeben.

Sie erklären, alles muß sich im gesetzlichen Rahmen bewegen. Darüber hinaus könnte doch auch der Gesetzgeber selbst tätig werden.

Sie denken an eine Amnestie? Ich glaube, daß wir daran im Augenblick nicht denken sollten.

Wenn das, was als Kinkel-Initiative bekannt ist, erfolgreich ist und einige der Gefangenen freikommen, wird damit eine neue Dynamik in Gang gesetzt; das, was die Gefangenen die „Perspektive der Freiheit für alle“ nennen. Was steht am Ende des Prozesses?

Zunächst zu dem Begriff Kinkel- Initiative: Wenn ich das richtig sehe, gibt es diesen Begriff erst seit einigen Tagen. Ich habe zwar an diesem schwierigen Fragekomplex seit meiner Zeit als Staatssekretär mitgearbeitet und ich habe vor kurzem auch erklärt, daß ich sehr unglücklich bin, daß wir dieses Problem überhaupt nicht in den Griff bekommen haben. Es ist aber nicht mein alleiniges Verdienst, daß es jetzt zu dieser Erklärung gekommen ist. Was sie im übrigen ansprechen, sehe ich sehr wohl. Ich kann aber im Augenblich dazu nichts sagen. Wie werden das bei unseren Reaktionen bedenken müssen. Wir stehen schließlich erst am Anfang eines nicht so einfachen Weges.

Wird die Öffentlichkeit ihre Reaktion bemerken?

Natürlich wird sie das.

Im Zusammenhang mit dem letzten Hungerstreik hat es, mit Rückendeckung der Bundesregierung, Versuche gegeben, über Mittelsmänner direkte Kontakte zu dem Untergrundkommando der RAF aufzunehmen. Ist nicht jetzt der Zeitpunkt gekommen, die damals im Ansatz steckengebliebenen Versuche erneut aufzunehmen?

Dazu möchte ich mich nicht äußern. Wir sollten jetzt keine Fragen diskutieren, die in der Öffentlichkeit falsch aufgefaßt werden könnten. Verhandlungen mit Terroristen kann es nicht geben.

Es gibt seit fünfzehn Jahren die Forderung nach der Zusammenlegung der Gefangenen. Ist das nun Gegenstand von Überlegungen, die Sie mit ihren Ressortkollegen aus den Bundesländern in Reaktion auf das RAF-Schreiben führen?

Auch darüber werden wir nachdenken.

Unter den Gefangenen herrscht im Moment eine erhebliche und nicht ganz unberechtigte Befürchtung, daß am Ende des von Ihnen eingeleiteten Prozesses zwei Klassen von Gefangenen stehen: Eine, die unter bestimmten Bedingungen freigelassen wird — und eine, die insbesondere nach den Ausagen der RAF-Aussteiger aus der DDR damit rechnen muß, bis ins hohe Rentenalter im Gefängnis zu sitzen.

Die gesetzlichen Vorschriften haben nun einmal ganz bestimmte Voraussetzungen. Wo diese erfüllt sind, gibt es einige Möglichkeiten. Wo sie nicht erfüllt sind, wird man noch warten müssen. Ich wiederhole: Wie die Dinge sich entwickeln werden, hängt auch sehr stark von der Reaktion der Gefangenen ab. Sie müssen wissen, daß auch sie über Schatten springen müssen.

Gespräche über Hafterleichterungen sind bislang immer diskret geführt worden. Mit ihrer Erklärung hat die RAF das Thema in die breite öffentliche Diskussion getragen. Ist das von Vorteil, weil man nun hinter den Stand der Diskussion nicht mehr zurück kann, oder ist es eher ein Hemmnis, weil damit auch der Widerstand gegen Ihre Pläne mobilisiert wird?

Es gibt nichts zu verbergen.

Das Gespräch führten

Wolfgang Gast und

Gerd Rosenkranz