Graue Mäuse aus Thüringen reisen nach Jerusalem

■ Bei der Bildungsreise der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung durften auch fünf Ossis mit

Wir Ostdeutschen haben neben anderen Schäden auch eine argwöhnische Depression gegenüber allem Zentralen. Zentralkomitee, Zentralrat, zentrales Ausbildungslager der GST. Kaum waren diese wendebedingt verschwunden, tauchte in Thüringen schon eine neue auf. Die Hessische Landeszentrale für politische Bildung. Und Wunder. Inmitten all der neuen Dümmlichkeit, Anmaßung und Bevormundung: eine Zentrale, bundesdeutsch, die sofort zur Sache ging und den Thüringern half. Ohne Geschrei und Aufsehen, ganz selbstverständlich wurde aus einem verwahrlosten Erfurter Gebäude heraus, in dem sich die hessische Zentrale einquartiert hatte, der neue, aufrechte Gang vermittelt. Wirklich guter Rat für Leute aller Couleur, für Lehrer, Existenzsuchende, für Wissenschaftler und Intellektuelle. Alles, was zum neuen Leben gehört, die Rechte und Pflichten, waren zu erfahren.

„Kommt her zu mir, alle.“ Die Devise der unerschrockenen Hannelore Jansen aus Wiesbaden, die gleich nach der Wende auftauchte, über ein Jahr lang die Filiale jener Hessischen Landeszentrale betrieb und der Thüringer Schwesterinstitution auf die Beine half. Die arbeitet nun. Und Jansen ist nebst wackerem Chef, Dr. Schacht, wieder in Wiesbaden. Doch noch immer die alte Fürsorge um das politische Niveau der Thüringer: Die Bildungsreise der Hessen nach Israel. Fünf Thüringer durften mit. Drei Lehrerinnen, eine Buchhändlerin, ein Schriftsteller. Graue Mäuse freilich allesamt, inmitten all der honorigen Farbigkeit. Zweimal Rot, Landtagsabgeordnete der SPD. Zweimal Schwarz, die Landtagsabgeordneten der CDU. Einmal Grün. Die Landtagsabgeordnete Senta Seip. Journalisten, Beigeordnete, Historiker.

Heiß war es im Heiligen Land und großes Erstaunen, nicht nur bei den naiven Ostlern, über die vielen Juden. In jedem Haus wohnen sie. An jeder Ecke stehen sie. In jedem Taxi ein jüdischer Chauffeur. In jeder Uniform blutjunge, weibliche oder männliche jüdische Soldaten. Auf den Straßen jüdische Hunde und Katzen. In den Kinderwagen jüdische Babys. Nicht nur die hessischen und Thüringer Gojim zeigten sich bewegt. Auch der Autor war gerührt. Denn in seinen Kreisen, in den ostdeutsch-jüdischen, beklagte man vor der Wende stets die winzige Zahl von Schicksalsgenossen, tröstete sich aber stets im geheimen damit: „In Erez soll es Juden geben.“ Der Beweis ist erbracht. Es gibt sie.

Das Programm der Reise — grandios und erbarmungslos. Der jüdische Staat hat außer der Heiligen Schrift noch keine Verfassung.

Sollte es je dazu kommen, dann muß hinein, daß den gutwilligen Besuchern die Torturen erspart bleiben, alles, aber auch alles sehen zu müssen und jeden Standpunkt zu hören. Wir haben alles gesehen. Das unvergleichliche Jerusalem in seiner Schönheit, Pracht und seinem Leiden. Die Pilger aus aller Welt, an den heiligsten Plätzen der Menschheit, die feindlichen Brüder, Araber und Juden. Wir sahen die Klagemauer, die El Aqsa-Moschee, die Grabeskirche, den Garten Gethsemane. Bethlehem und Nazareth, den Golan, den See Genezareth. Massada, wo schon die Väter (und Mütter d. Säzzin) lieber starben, als in die Sklaverei zu gehen. Das Tote Meer. Im Negev Beduinen mit Ziegen und Kamelen. Armenische Mönche, blinde Bettler, stehlende Kinder.

Und was wir alles hörten. Den unstillbaren Schmerz, der noch immer, nach 47 Jahren, die Menschen begleitet. Die fassungslose Empörung über den Vormarsch der Rechtsradikalen in zwei Bundesländern. Den unglaublichen Humor des Gelehrten Shalom Ben Chori und die Menschlichkeit des Pädagogen Israel Szabo, der alle seine Angehörigen einschließlich des 89jährigen Großvaters in den Gaskammern verlor. Wir hörten auch den deutschen Botschafter, Dr.von der Gablentz, und waren froh über diese vorzügliche Vertretung des deutschen Vaterlandes im jüdischen Staat. Auch ein arabischer Bürgermeister erreichte unser Ohr. Einstiger Kommunist und Mitglied der PLO-Führung. In Moskau und Ost-Berlin hat er studiert. Sämtliche Kinder ebenda. 1990 war er dann ausgetreten aus der „Mutter der Massen“. Kein Geld mehr von Gorbi, wurde in der Gruppe orakelt. Vielleicht aber war es wirklich der heilige Zorn über all die Entartungen. Stolz wurde die ostdeutsche Ehefrau präsentiert. Schweigend und gesenkten Blickes servierte sie Kaffee, Tee und Orangensaft für 32 ihrer einstigen Landsleute. Das Resümee der Reise: Bewunderung für ein uraltes, junges Land. Ebensoviel Ratlosigkeit, wie jene unversöhnlichen Welten versöhnt werden können. Dankbarkeit darüber, solches sehen und hören zu dürfen, und wieder einmal die Erfahrung, daß die Probleme der deutschen Einheit eher Nebensächlichkeiten auf dieser Welt sind. Henning Pawel