KOMMENTAR
: Der Kuchen wird nicht größer

■ Warum sind die Berliner Leser so zeitungsmüde?

Die Berliner lesen weniger Zeitung — das steht fest. Über hunderttausend Zeitungen werden täglich weniger verkauft als vor einem Jahr. Aber warum? Liegt es am Fernsehen, am Radio? Es gibt mehr Programme und mehr Sendezeit. Aber mehr Informationen gibt es kaum, der Trend geht zum Dudelfunk und Werbeclip. Die Politikmüdigkeit? Der Überdruß an Problemen, die sich wiederholen und von denen man erst recht nichts hören mag, wenn sie den anderen Teil der Stadt betreffen? Denn keine Zeitung konnte in der anderen Stadthälfte Fuß fassen, die 'Berliner‘ trotz des Dumpingpreises nicht im Westen; die Westzeitungen nicht im Osten. Aus der Gewöhnung an das Außergewöhnliche folgt sicherlich, daß die Berliner weniger Zweitzeitungen am Kiosk kaufen. Aber steckt hinter dem Versuch, alles mit Politikmüdigkeit zu erklären, nicht die Arroganz der Zeitungsmacher, die das Publikum schmähen, für das ihr Produkt hochwertig sei?

Denn vielleicht bilden Berlins Zeitungen ja auch die Wirklichkeit nicht so ab, wie die sich dem Leser zeigt. Vielleicht sind sie zu fixiert auf die beiden Rathäuser, in denen nichts mehr passiert, und auf Senatsvorhaben, aus denen niemals etwas wird.

Vielleicht ist die Berliner Gesamtauflage auch nur auf das »Normalniveau« geschrumpft. Aber der Kuchen, der nun doch nicht so viel größer werden wird, als er vor der Maueröffnung war, wird auf alle Fälle neu verteilt. Die Verlage, die Hunderte von Millionen Mark in Technik und Personal gesteckt haben, werden langfristig die Nase vorn haben. Die, die gespart haben, werden möglicherweise eingehen — angefangen mit dem Spandauer Volksblatt. Eva Schweitzer

Siehe auch Seite 22