„Wir sind schwach, aber darin stark“

70 Jahre Internationale Arbeiter Assoziation/ Die Anarchisten der Welt riefen zum Kongreß nachKöln/Die anarchistische Internationale als Retterin der Ausgebeuteten/ Der Organisation fehlen die Mitglieder – und ein neuer Bakunin  ■ Aus Köln Bernd Müllender

Gleich der erste Redebeitrag erwies sich als wegweisend. Ein Anarchist aus der GUS hatte das Wort: „Die Lage der Arbeiterklasse in Moskau ist sehr schwierig. Aber wir müssen einen entschiedenen Klassenkampf führen, und damit müssen wir jetzt sofort beginnen. Leider jedoch haben wir keine Möglichkeiten dazu.“

Das mag wie unfreiwillige Realsatire klingen, gemeint war es bitter ernst. Es gilt nicht nur für die Anarcho-Syndikalisten in Moskau, die, glaubt man dem Redner, vor zwei Jahren durchaus noch Zulauf hatten. Aber jetzt gebe es immer weniger Mitglieder, denn „viele von uns haben sich solchen Parlamentsspielereien hingegeben. Andere sind — ich nenne sie — 'Anarchokapitalisten‘ geworden. Leute, die dieses völlig absurde Modell der Marktwirtschaft propagieren.“

Daß Anarchie machbar ist, mag vielleicht noch so mancher Herr Nachbar glauben. Doch dem unvoreingenommenen, erwartungsfrohen Besucher des 19. Weltkongresses der Internationalen Arbeiter Assoziation (IAA) kam das alles ganz anders vor.

„Anarchie“, hatte der Schriftsteller Erich Mühsam gesagt, sei „die Lehre von der Freiheit, die klassenlose Gesellschaft freier Menschen“. Die Mittel seien „die Zerstörung aller Obrigkeit, aller Vorrechte, aller Eigentums- und Verwaltungseinrichtungen“. Bakunin vor allem und der gemäßigte föderale Proudhon, später der Libertäre Kropotkin und der Syndikalist Rudolf Rocker sind die Theoretiker des Anarchismus. Sie alle propagierten den Aufstand und die Revolte der proletarischen Massen, den Klassenkampf bis hin zur Weigerung zu jeder Kooperation mit den Mächtigen. Nach dieser Maxime gilt: Kein Zurückziehen hinter Vertreter, sondern jeder einzelne hat seine Interessen selbst durchzusetzen. Das Lexikon der Anarchie liefert die Stichworte: Räteversammlungen, imperatives Mandat, Rotation, Generalstreik, Abschaffung des Staates, direkte Aktion, „das Prinzip der permanenten Revolution“.

Zu ihren besten Zeiten, während der weltweiten Rezession in den zwanziger Jahren, zählte die IAA über drei Millionen Mitglieder. Knapp hundert Delegierte aus gut einem Dutzend Ländern waren zum Familientreffen nach Köln gereist. Schon rein äußerlich wurde das Gestern ein wenig wiederbelebt. Erfrischend unmodisch und streng zeitgeistresistent waren sie gekleidet, manche in herrlich speckigen, ledernen Schiebermützen-Relikten aus glorreichen Zeiten. Vielfach dominierte die abgewetzte schwarze Lederjacke. PLO-Schals waren schon ein Zugeständnis an die Moderne des politischen Kampfes. Als Anrede zählte Kameraden, vor allem aber: Genossen. Genossinnen gab es zwar auch, aber sie waren klar in der Minderheit.

Eine öffentliche Podiumsdiskussion sollte über den heutigen Stand des Anarchosyndikalismus aufklären. Es gelang ihr schonungslos: Mitch, Vertreter aus den USA, forderte, es dürfe „nur ein Ziel geben: den Klassenkampf“. Leider hätten die Leute in seiner Heimat dies noch nicht erkannt, sie hätten eben „solche Berührungsängste“, aber „wir müssen die Amerikaner eben umerziehen.“ Die Arbeit wird schwer: Ein Papier der US-Anarchisten berichtet begeistert vom Treffen 1991, an dem indes nur neun Teilnehmer aus immerhin sieben Staaten teilgenommen hätten. Ein Ukrainer vermeldete ähnliche Probleme: Eine Anarchistin aus seiner Stadt habe „einen Verein alleinerziehender Mütter gegründet“, leider sei sie bis heute „einziges Mitglied geblieben“. Die spanische Delegation verkündete, man sei „an allen Fronten gegen Staat und Militär“ tätig und reklamierte selbstgefällig den „offenen Kampf“ der derzeit 3.000 iberischen Totalverweigerer als von den spanischen Anarchisten gesteuert. „Der Staat“, so legte der Spanier triumphierend dar, „hat nichts machen können — außer Prozesse führen.“ Trotz der wenig erfreulichen Kaderstärke der Anarchisten obsiegt Zuversicht und Tatendrang: In Andalusien sind es beispielsweise zwei Mitglieder. Gerade dort versuche man, „durch kulturelle Feste die Arbeiter zu erreichen“.

Die wenigen Neugierigen zeigten sich von solch rührenden Erfolgen so beeindruckt, daß kaum jemand bis zum Kongreßende blieb. Abschreckend in ihrer Langatmigkeit waren vor allem die detaillierten Darstellungen und profunden marxistischen Analysen zur menschenverachtenden sozialen Situation in Lateinamerika. Manchmal schien es, als diene das Elend der Welt der Kölner „Avantgarde der Arbeiterbewegung“ zur Rechtfertigung der eigenen Existenz: Je schlimmer es wird, desto mehr könne mit einem Anwachsen der anarchistischen Bewegung gerechnet werden. Der Peruaner Angel meinte, die „explosive soziale Situation“ gebe ihm „durchaus Hoffnung“.

Jesús, ein kleiner, drahtiger, alter Mann voll innerer Glut und Energie, ganz Klischee des unbeugsamen Kämpfers, forderte schließlich das Ende des Analysierens und der Laberei. Zur Tat mahnte er. „Nur die anarchistische Internationale kann den Erniedrigten, den Ausgebeuteten helfen. Wir sind es, die die Sklaverei beenden müssen. Schluß mit der Gewerkschaftsarbeit, die immer nur zur Zusammenarbeit mit dem Staat führt. Wir müssen den intellektuellen, philosophischen Zusammenbruch stoppen. Unser Gedankengut ist unser Reichtum. Es lebe die Revolución.“ Prasselnder Applaus für den Argentinier. Und ein Rumäne aus dem Publikum ergriff das Wort: „Es fehlt ein neuer Bakunin! Es fehlt ein Führer!“ Das begeisterte die Delegierten. Und Jesús ergänzte: „Wir sind zwar schwach, aber darin sind wir stark.“ Wohl wahr. Was in spontideutsch heißt: „Keine Macht für niemand“, ist zugleich verinnerlichtes Programm für die Internationale der organisierten Anarchisten. Wer wie sie keinerlei Einfluß oder Macht hat, kann guten Gewissens die Entmachtung aller fordern und braucht die eigene Korrumpierung nicht zu fürchten. Mit der Revolution hat es noch ein wenig Zeit. Der eine oder andere umgeknickte Strommast tut's zwischendurch auch. Als Idee lebt die Anarchie weiter. Weiterhin. Fürderhin. Immerhin. Anarchie ist immer drin, Frau Nachbarin.