Der freie Fall der sowjetischen Wissenschaft

An Moskaus Lomonossow-Universität ersticken Reformversuche am Geldmangel/ Nur wenigen gelingt der Sprung ins Ausland/ Neue Bücher braucht das Land — aber wer bezahlt die Übersetzungen? / Die Uni hofft auf ausländische Studenten  ■ Aus Moskau Ulrike Lückermann

Das erste, was einem in der Moskauer Lomonossow-Universität auffällt, sind die holzverkleideten Wände, der gebohnerte Fußboden und die roten Teppiche auf den Gängen: bürgerlicher Feudalismus verpackt in sozialistischem Zuckerbäckerstil. Mächtig und erhaben steht das Hauptgebäude mit seinen Türmchen und Schnörkeln auf den Leninbergen und blickt auf die Moskwa und das Zentrum der russischen Hauptstadt. Über 20.000 Studenten sind an der größten russischen Universität eingeschrieben. Das Studium dauert in der Regel fünf Jahre und ist straff organisiert. Dozenten und Professoren verlangen Disziplin. Die Kurse sind meistens sehr klein, manchmal mit vier oder fünf Teilnehmern. Insofern also optimale Studienbedingungen.

Aber der Schein trügt. Das Studentenleben in Rußland ist nicht mit dem in westlichen Ländern zu vergleichen. Im Wohnheim muß man sich ein Zimmer mit anderen Kommilitonen teilen, und irgendetwas ist immer kaputt: mal sind es die Glühbirnen im Korridor, dann fällt die Heizung tagelang aus. Und das staatliche Stipendium, das in diesem Jahr auf 342 Rubel im Monat erhöht wurde, reicht nicht zum Leben.

Nachdem sich die politische Lage geändert hat, müssen die Hochschulen den alten ideologischen Ballast über Bord werfen und sich reformieren. Denn früher hatte jeder Student, egal ob er Physik oder Journalistik studierte, über die Geschichte der KPdSU und der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution Bescheid zu wissen. Diese Zeiten sind nun vorbei. Für die notwendige Erneuerung fehlt es aber an Geld und an kompetenten Lehrkräften. Diejenigen, die international einen guten Ruf haben, werden inzwischen von ausländischen Universitäten mit verlockenden Angeboten abgeworben — während ihre Kollegen, die in Rußland bleiben, vor Neid vergehen. Einige haben seit Monaten kein Gehalt mehr ausgezahlt bekommen.

Hinzu kommt das Gerangel zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken. Selbst die einfachsten Dinge sind unklar: Wer wird künftig die Lomonossow-Universität finanzieren? Anfang des Jahres stellte die Regierung Jelzin erst einmal fest, alle Gebäude und Grundstücke könnten von der Hochschule für unbefristete Zeit kostenlos genutzt werden. Die Lage ist aber dennoch katastrophal. Computer und ausländische Fachliteratur müßten dringend gekauft werden, doch dafür gibt es kein Geld. Die Uni fürchtet ihr Renommee zu verlieren. Und Jahre werden vergehen, bis die ersten Absolventen die Hochschule verlassen, denen jenes Wissen vermittelt wurde, das heute gefragt ist.

Andererseits droht das Niveau gerade in naturwissenschaftlichen Fächern zu sinken. Säuren, Laugen oder Fermente können aus Kostengründen nicht mehr angeschafft werden. Versuche in den Labors sind so kaum noch möglich. Kopierer und Fax-Geräte sind Mangelware.

Es fehlt aber auch an jungen, engagierten Nachwuchskräften, die nicht die Fähigkeit verloren haben, selbständig zu denken und eine eigene Meinung zu vertreten. Denn Umfragen unter den Moskauer Studenten haben ergeben, daß bei den Lehrkräften nicht nur Wert auf Fachkompetenz gelegt wird, sondern auch auf Charaktereigenschaften wie Ehrlichkeit und Anständigkeit. Andererseits wollen die Studenten endlich jene Bücher und Theorien kennenlernen, die man ihnen bisher vorenthalten hat. Doch wer soll die Übersetzung ins Russische bezahlen? Und Papier ist immer noch knapp.

„Wir brauchen dringend Hilfe aus dem Ausland“, sagt Wladimir Sokolow, Prorektor für internationale Beziehungen an der Moskauer Uni. Allerdings haben bisher nur die USA und Frankreich diesen Wunsch erfüllt. Die jeweiligen Regierungen bezahlen nicht nur russischsprachige Editionen, sondern auch Wissenschaftler, die sich bereit erklärt haben, für ein oder zwei Semester in Moskau zu unterrichten. Etwa zweihundert Studenten hören an der ökonomischen Fakultät bereits Vorlesungen in französischer oder englischer Sprache.

Ähnliche Projekte sind mit deutschen Wissenschaftlern geplant. Doch die Gespräche zwischen der Moskauer Uni und den zuständigen Behörden in Bonn verliefen bisher im Sande. Gerade an der ökonomischen Fakultät müssen nach dem Ende der Planwirtschaft neue Lehrinhalte vermittelt und Spezialisten ausgebildet werden. Denn in vielen Betrieben wurden Mathematiker und Lehrer als Direktoren eingesetzt, die keine Ahnung von Management haben. Ob sie Profis waren, war vollkommen unwichtig — was zählte, war das Parteibuch.

Weil die Unternehmen heute dringend Führungskräfte brauchen, sind sie bereit, Geld in die Ausbildung an den Hochschulen zu investieren. Gesucht werden sowohl in- als auch ausländische Sponsoren. „Wir brauchen Spezialisten, die unsere Wirklichkeit in den Betrieben kennen — und die möglichst zwei Sprachen sprechen“, erläutert Sergej Jakowlew, der stellvertretende Dekan der Wirtschaftsfakultät an der Lomonossow-Universität. Deshalb soll der Unterricht in verschiedenen Sprachen stattfinden. Studenten aus dem Ausland, die erstens Devisen bringen und zweitens Interesse für das Land und die Wirtschaft haben, sollen nach Moskau gelockt werden. „Diese Studenten könnten einmal eine wichtige Rolle im internationalen Handel spielen“, sagt Sergej Jakowlew.

Für die russischen Studenten hingegen ist ein Auslandsstudium im Westen noch immer ein fast unerfüllbarer Traum. Die Lomossow-Universität hat in diesem Jahr nur neunzehn Stipendien für Auslandsstudien von der russischen Regierung bewilligt bekommen. Kleine, wissenschaftlich unbedeutende Universitäten bekamen dagegen ein größeres Kontingent — weil sie früher immer benachteiligt wurden.