Zwischen Alaska und Kuwait

Günter Krämers „Rheingold“-Inszenierung in Hamburg  ■ Von Irene Tüngler

In Hamburg beginnt das Theaterspiel wie Richard Wagners Musik: aus dem Urgrund. Im Hotelzimmer von La Spezia dahindösend, überkam den Meister jenes legendenumwobene tiefe Es, mit dem die Kontrabässe vier Takte lang sein vierteiliges Lebenswerk beginnen. Die Bühne des Hamburger Opernhauses ist offen und leer bis an die Brandmauern, während die Menschen das Theater füllen. Wenn die Ouvertüre dann ihr Es-Dur webt, senkt sich ein schwarzer Vorhang vor das Arbeitslicht, um sich für die Finsternis des Weltalls wieder zu heben. Die Rheintöchter schwingen sich durch unbestimmten schwarzen Raum. Erst das Erscheinen des Rheingoldes kündigt sich durch gleißendes Licht an: Verhör ersten Grades für das geblendete Publikum. Als der Nibelunge Alberich die riesige Kugel, ersatzweise für verschmähte Liebe, in seinen Besitz gebracht hat, rollt er sie in die Tiefe des Raumes davon.

Noch gewaltiger aber ist jene Kugel, die den Göttern gehört. Die nördliche Hemisphäre des blauen Planeten nimmt die Bühne ein, und irgendwo zwischen Kanada und Alaska lagern Wotan und Gefolge nach Wagners Vorschrift in freier Gegend auf Bergeshöhen. Die Gruppe junger Bürger aus der oberen Mittelschicht erwartet dort oben den Abschluß der Bauarbeiten am zukünftigen Heim. Die bauschaffende Riesentruppe um die Poliere Fafner und Fasolt präsentiert denn auch alsbald das fertige Häusle mit Spitzdach und Garagentor als Bildausschnitt in goldener Nebelferne. Aus der Erdkugel ragt die silberglänzende Erdachse gleich einer Antenne in den Raum. Wie sich herausstellt, ist das Tele-Kommunikationsinstrument Wotans verträgeschützender Speer.

Mit der Bezahlung ihres festen Wohnsitzes Walhall geraten die an ein umherschweifendes Leben gewöhnten Götter in die bekannten Schwierigkeiten zwischen vertraglicher Pflicht (nämlich mit der Herausgabe der Göttin Freia zu zahlen) und der betrügerischen Neigung (dies zu unterlassen). Da die Maurerpoliere mit ihrem Wunsch nach Bezahlung nachdrücklich werden, muß der Intellektuelle Loge helfen. An den Fingerspitzen noch brennend, entsteigt er der Erde in der für Feuergötter zuständigen Region der Golfstaaten. Mit seiner Erzählung vom Rheingold und durch die Mithilfe an dessen Raub rettet er die Götter vor dem Siechtum, da ihnen Freia und ihre goldenen Äpfel der ewigen Jugend erhalten bleiben.

Man könnte sich in der Beschreibung tiefsinniger, symbolträchtiger, auch heiterer Details von Günter Krämers Regie und der Bilderfindungen Andreas Reinhardts verlieren, und verlöre dabei den besten Teil des Abends aus den Augen: den musikalischen. Der Dirigent Gerd Albrecht erreichte eine überraschende Deutlichkeit der Aussage durch ein konsequent kammermusikalisches Arbeiten mit dem Hamburgischen Staatsorchester. Präziser Feinschliff ließ Details hervortreten, die im Wagnerschen Sinnenrausch häufig untergraben werden. Ausnahmslos alle Sänger trugen diese Auffassung mit. Ein jugendlich leichter Bariton ohne schwere Heldentonnage war Hartmut Welkers Wotan, wunderbar modulationsreich Hanna Schwarz' Fricka und kaum weniger glänzend Linda Pechs eigentümlich bewegende Freia; scharf voneinander abgegrenzt in der Stimmcharakteristik der lyrische, jugendliche Tenor Heinz Kruse als Loge und der schreiend geplagte Mime Horst Hiestermanns. Günter von Kannen machte seinen Alberich allein über die Gesangsleistung zur Hauptgestalt. Das Gold, das rollt, ist der Dreh-und Angelpunkt im „Vorabend“ zum Ring des Nibelungen. Sinnfälliges Zeichen: nur wer das Gold beherrscht, ist zum aufrechten Gang fähig. Auf Knien rutscht Alberich den Rheintöchtern nach, bevor er die glänzende Kugel raubt, an ihr stützt er sich empor, auf Knien schließlich kriecht er davon, wenn ihm Wotan am Ende Gold und Ring entreißt. Eben aus dem Rhein geraubt, findet sich die Kugel in Nibelheim wieder, in eine riesige Dreipunkthalterung gespannt und von einer pendelnden Präzisionssäge zerlegt. Später schichten sich die Riesen aus den akkuraten Paßstücken ein goldenes Frauenidol, ihr Lösegeld für Freia. Erda tritt warnend dahinter hervor. Beim nächsten Tanzschritt um das goldene Kalb erschlägt Fafner dann seinen Bruder Fasolt, und Jung-Wotan ahnt den Fluch, der auf Gold und Ring ruht. Erst einmal aber zieht die olympische Gesellschaft über einen mittels Flaschenzügen vom Himmel geholten blau-grünen Regenbogen aus Plexiglas in ihr Wolkenkuckucks-Heim ein.

Die mythischen Licht- und Schwarzalben, Götter und Nibelungen, zeigen sich bei Krämer eher menschlich: Alberich als fast sympathischer Unternehmer der ersten Generation, die selbst noch in speckigem Unterhemd durch die heiße Werkstatt läuft, ein Spötter und endlich betrogener Betrüger, Fricka einmal nicht als Gewitterziege karikiert, sondern in ihrem Wesen erfaßt: die deutsche Mittelstandsfrau. Donner übt sich als Schicki-Micki- Kraftmeier, Freia macht auf protestierendes Bürgerkind.

Das Puzzle der Figuren brachte dem Abend mehr Kurzweil und Spannung als große konzeptionelle Ansätze — es ist einfach noch offen, wohin die nächsten Ring-Abende weisen mögen. Im bundesweiten Wettbewerb der vielen Ringe und Gesänge jedenfalls darf Hamburg schon jetzt mit einem der vordersten Plätze rechnen.

Richard Wagner: Rheingold. Regie: Günter Krämer, Dirigent: Gerd Albrecht, Staatsoper Hamburg, wieder am 3.Mai.