: Sozialismus oder Barbarei
Boris Kagarlitzki, russischer Oppositionspolitiker, über Sowjetmacht und Demokratie ■ INTERVIEW VON BIRGIT ZIEGENHAGEN
taz: In der jüngsten russischen Geschichte gibt es ein höchst bemerkenswertes Phänomen. Einerseits wird viel von Demokratisierung der Gesellschaft geredet, gleichzeitig konzentriert das neue Zentrum, Präsident Boris Jelzin, mehr und mehr Macht in seinen Händen. Haben die bösen Zungen, die den Russen Demokratieunfähigkeit bescheinigen, etwa doch recht?
Boris Kagarlitzki: Vor allem muß man verstehen, daß die Begriffe bei uns eine ganz andere Bedeutung haben als im Westen. Das Wort „Sozialismus“ wurde beispielsweise für ein Regime benutzt, das mit der einstigen Vorstellung von Sozialismus überhaupt nichts gemein hatte. Den Begriff hat man verwandt, weil er damals sehr positiv besetzt war. Dahinter standen europäische und weltweit verbreitete Ideen.
Das gleiche geschieht jetzt mit der „Demokratie“. Als die Begriffe Kommunismus und Sozialismus für die Rechtfertigung der Nomenklatura an Bedeutung verloren, hat das Regime der Perestroika sich eine neue ideologische Grundlage gesucht: die Demokratie und den westlichen Liberalismus. Nun kann man all das, was früher im Namen des Sozialismus getan wurde, wiederholen — im Namen der Demokratie, der allgemeinen Menschenrechte oder eines gemeinsamen europäischen Hauses.
Die „Demokratie“ ist also in Rußland kein Ziel, sondern nur Mittel zum Zweck?
Sie ist weder Ziel noch Mittel, sondern sie ist nichts als ein schönes Wort, mit dem man die Bevölkerung für dumm verkaufen kann.
Kann und sollte Rußland denn überhaupt die parlamentarische Demokratie des Westens übernehmen?
Ja und nein. Nein, im Sinne, daß Rußland sie nicht einfach kopieren kann. Die westliche parlamentarische Demokratie ist Produkt einer ganz bestimmten Gesellschaft, mit Traditionen, sozialen Strukturen und einem festen Platz im System der Weltökonomie. Sie wurde möglich, weil sich die westlichen kapitalistischen Länder in einer privilegierten Stellung befinden. Die Bevölkerung lebt gut, selbst die niedrigsten Schichten. Das führt zu einer gewissen sozialen Stabilität und damit zu einer recht gut funktionierenden Demokratie im Parlament. All diese Voraussetzungen sind in Rußland nicht vorhanden. Daraus folgt aber durchaus nicht, daß wir nicht demokratiefähig sind.
Welche anderen demokratischen Gesellschaftsformen könnten denn für Rußland in Frage kommen?
Zuerst einmal muß man verstehen, daß in Rußland durch das Fehlen von erfahrenen Politikern die völlige Gewaltenteilung leider nicht möglich ist. Mehr noch, jeder Versuch, die Gewalt zu teilen, führt dazu, daß ein harter Kampf zwischen den Vertretern der Legislative und der Exekutive beginnt. Dabei gewinnt natürlich die Exekutive, und die Legislative verabschiedet nur noch Dekrete. Dieses Problem gab es bereits Anfang der 20er Jahre. Damals hat das Volk instinktiv die für Rußland richtige Lösung gefunden: das einheitliche System der Machtvertretung anstelle der Gewaltenteilung — die Macht der Räte.
Sie meinen, eine Räterepublik könnte Rußland heute auf den Weg der Demokratie führen?
Ja, und nicht nur ich denke so. Immer mehr Leute in Rußland begreifen, daß die Idee der Sowjetmacht grundsätzlich richtig war. Das müssen natürlich Räte sein, die aus verschiedenen Parteien bestehen. Und sie müssen frei, geheim und demokratisch gewählt werden. Die Sowjets sind in Rußland die einzige Möglichkeit, so etwas wie eine reale Demokratie zu schaffen. Wenn die Exekutive sich von denen entfernt, die die Gesetze machen, entsteht unnötig viel Bürokratie. Auch das Parlament wird dann überflüssig.
Auch jetzt arbeiten überall in Rußland Sowjets in neuer Besetzung. Das hat aber keineswegs zu mehr Demokratie geführt. Davon können Sie selbst, als Mitglied des Moskauer Stadtsowjets, ein Lied singen.
Die Sowjets, die es heute gibt, sind natürlich überholt. Sie müßten viel kleiner werden und der Bevölkerung näher stehen, damit die Leute auch verstehen, was die Deputierten machen. Das ganze Sowjet-System sollte dezentralisiert werden, und gleichzeitig müßte man den Leuten unten maximale Macht geben. Sie müssen selbst über Finanzmittel verfügen. Andererseits erhalten wir aber keine Demokratie ohne Privateigentümer. Wir haben nur die Wahl zwischen einer Diktatur der großen Monopole und einer gemischten Wirtschaft, in der der öffentliche Sektor dominiert, von den Sowjets aber kontrolliert wird.
Was passiert dann mit den vielen kleinen Genossenschaften? Könnte sich daraus so etwas wie ein neues Kleinbürgertum herausbilden?
Für Rußland ist es sogar lebensnotwendig, daß kleine Unternehmer entstehen und daraus ein nationales Bürgertum. Paradox ist, daß diese Schicht zur Zeit nicht nur nicht entsteht, sondern daß die Kleinunternehmer sogar die Positionen verlieren, die sie sich in den Jahren 1989 bis 1991 erkämpft hatten. Sie werden systematisch zerrieben. Auf der einen Seite stehen die neuen privatisierten Monopole, die von den Bürokraten mit Hilfe beschlagnahmten Staatseigentums gebildet werden — auf der anderen Seite die Mafia.
Als die ersten Kooperativen auftauchten, konnte man aber beobachten, daß sie ziemlich gut mit den großen staatlichen Monopolen zusammenarbeiteten. Sie haben dort ihre Materialien eingekauft, diese verarbeitet und zu überhöhten Preisen wieder verkauft.
Das war nur in der ersten Etappe. Jetzt ist die Situation ganz anders. Die privatisierten staatlichen Konzerne verhalten sich jetzt genauso wie früher die Kooperativen. Sie produzieren nichts, sondern erhöhen einfach die Preise, um einen Extraprofit zu erhalten. Und sie versuchen den Kleinunternehmer endgültig zu verdrängen, weil er eine gewisse Konkurrenz darstellt.
Der Kleinunternehmer war ja auch bei der Bevölkerung nie sehr beliebt, weil die sich von ihm betrogen fühlte. Ist sein Schicksal also praktisch besiegelt?
Die Beziehung zu den Kleinunternehmen hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Nach Umfragen ist der größte Teil der Bevölkerung in Moskau und Leningrad jetzt für die Kleinunternehmen. Gleichzeitig sind sie gegen die Privatisierung der großen Unternehmen. Und was geschieht? Die Regierung macht alles genau umgekehrt.
In diesem Zusammenhang gab es ja in der letzten Zeit etliche Proteste. Was sind das für Leute, die sich heute gegen die Marktwirtschaft aussprechen?
Es gibt da zwei Typen von Unzufriedenen. Auf der einen Seite stehen die Kommunisten, auch die orthodoxen und stalinistischen. Letztere werden in der letzten Zeit von immer mehr Leuten unterstützt. Besonders groß ist der Anteil junger Leute darunter. Das hat man offensichtlich im Westen noch nicht begriffen. Auf der anderen Seite gibt es eine Opposition unter der demokratischen Linken. Sie kritisiert ebenfalls die kapitalistische Strategie Jelzins, aber meiner Meinung nach von realistischeren Positionen aus. Sie versteht, daß man die Idee der Marktwirtschaft nicht völlig ablehnen kann. Aber sie denkt, man sollte Abstand von der liberalen Position der Privatisierung und dem neuen Mythos der wunderbaren kapitalistischen Zukunft nehmen. Gleichzeitig will sie mit den Kleinunternehmern zusammenarbeiten. Nach Umfragen wird die Regierung von etwa 17Prozent unterstützt, für die kommunistische Opposition sind ebenfalls 17Prozent, der Rest ist gegen beide Seiten. Die Regierung hat also das Vertrauen der Mehrheit verloren. Andererseits sieht niemand eine echte Alternative.
Sie selbst haben ja während der Breschnew-Zeit genau das versucht, eine Alternative aufzuzeigen. Sie waren in der Opposition und landeten dann im Gefängnis. Wo stehen Sie heute in Rußland?
Auch wieder in der Opposition, und bestimmt nicht deshalb, weil es mir etwa gefällt. Alle, die sich in den Jahren 1989 bis 1990 in der Volksfront für den Wahlsieg der Demokraten einsetzten, sind jetzt wieder in der Opposition gelandet.
Wie ist das möglich? Wer hat denn dann heute die Macht?
Die gleichen, die sie früher hatten. Das ist ja gerade das Paradoxe, daß es genau die gleichen Leute sind. Zwar haben einzelne Vertreter der Demokraten wichtige Posten in dem neuen Staatsapparat, aber insgesamt blieb die gleiche Nomenklatura an der Macht. Sie hat lediglich die Losungen verändert und sich den neuen Bedingungen angepaßt. So hat zum Beispiel die ehemalige Führung des Komsomol (Jugendverband der KPdSU, d. Red.) jetzt die Leitung der großen Banken übernommen. Sie alle sind mit Privatisierung und Korruption beschäftigt. Auch fast alle Mitglieder des Politbüros und des ZK der KPdSU sind heute große Geschäftsleute. Insofern hat ein Umbau innerhalb der Bürokratie stattgefunden — eine Perestroika im wahrsten Sinne des Wortes.
Was meinen Sie genau, wenn Sie von Bürokratie sprechen?
Wenn ich von Bürokratie rede, meine ich den Staatsapparat. Die Bürokratie, die Nomenklatura, stellte ein geschlossenes System dar. Genauso wie die Rolle des Staates wuchs, so wuchs auch der Apparat selbst. Besonders die Führung hat mehr und mehr für ihre ganz persönlichen Interessen gesorgt. Aber jetzt, wo die Privatisierung begonnen hat, wo das Land den Kurs Richtung Kapitalismus genommen hat, ist es möglich geworden, für sich selbst noch viel mehr zu tun. Jetzt versuchen die Herren, sich Eigentum anzueignen, zu Geld und Vermögen zu kommen.
Parallel zu all diesen Umstrukturierungen wächst der Nationalismus. Stellt er eine reale Gefahr für die zarten Blüten der Demokratie dar, oder wird diese Bewegung überschätzt?
Jeder Nationalismus ist gefährlich. Ich persönlich glaube aber, daß es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen russischem und antirussischem Nationalismus gibt. Zwar sieht es auf den ersten Blick immer so aus, daß die antirussischen Kräfte ihre Minderheiten schützen. Doch sobald daraus eine Ideologie wird, dann endet auch dies mit Unterdrückung. Der russische Nationalismus ist natürlich gefährlich. Aber man sollte auch keine Panik schüren.
Wie kommt es aber, daß der Nationalismus gerade jetzt zugenommen hat, obwohl, wie Sie sagen, die Machthaber die gleichen sind?
Der Nationalismus ist vor allem eine Ideologie der Bürokraten. Was ist aber der Unterschied zwischen den Bürokraten vor zehn oder zwanzig Jahren und denen heute? Früher gab es eine einheitliche bürokratische Struktur. Durch die Krise ist die Bürokratie in verschiedene Bürokratien, Klane und Gruppen auseinandergefallen. Jeder versucht sich den Bereich, den er früher kontrolliert hat, unter den Nagel zu reißen, ihn zu seinem Nutzen zu privatisieren. Außerdem ist die Bürokratie in Republiken und in nationale Gruppen zerfallen. Diese nationalen Cliquen innerhalb des Apparates hat es zwar immer gegeben, aber jetzt fangen sie an, einander offen zu bekämpfen. In Estland zum Beispiel gibt es estländische Bürokraten und die russische Bürokratie, die jetzt um ihre Posten bei der Privatisierung streiten.
Aber man kann doch nicht alle nationalen Konflikte mit den Machtkämpfen der Bürokraten erklären. In Moldowa zum Beispiel geht es auch darum, ob sich rumänische Großmachtbestrebungen durchsetzen.
Das ist kein nationaler Konflikt. In Wirklichkeit ist es ein sozialer Konflikt. In Moldowa ist das gleiche bürokratische Bürgertum an der Macht wie in den anderen Republiken der ehemaligen UdSSR. Dagegen hat in der Dnjestr-Republik, wie selten das auch vorkommen mag, die Arbeiterklasse die Macht. Da die Region sehr stark industrialisiert ist, entstanden — ähnlich wie in Petrograd 1917 — Arbeiter-Sowjets, die keinerlei Beziehungen zur KPdSU haben. Ich will das aber keinesfalls idealisieren, weil ja noch gar nicht klar ist, was daraus wird. Ein Problem ist, daß in den meisten Republiken die Arbeiterklasse aus Russen besteht. Deshalb erscheint der Konflikt zwischen der Arbeiterklasse und dem bürokratischen Bürgertum auch in Moldowa nach außen wie ein Konflikt zwischen Russen und der nationalen Mehrheit.
Gibt es in dieser schwierigen Situation irgendwelche gesellschaftlichen Kräfte, die Träger einer neuen demokratischen Bewegung in Rußland sein könnten?
Das sind meiner Meinung nach trotz allem die Arbeiter, vor allem die qualifizierten Facharbeiter. Das ist eine recht große Schicht mit einer guten Ausbildung. Viele kommen aus dem militärisch-industriellen Komplex, der jetzt zerstört wird. Dazu kommen noch die Ingenieure, Studenten, die unteren Manager und die qualifizierten unteren Bürokraten. Diese Leute sind gegen Jelzin. Sie sind enttäuscht vom wirtschaftlichen Liberalismus und vom Kommunismus. Viele sympathisieren mit der Partei der Arbeit oder anderen linken Kräften.
Wie ist die Lage der Gewerkschaften?
Mit der Gewerkschaft ist das jetzt sehr schwierig. Einerseits ist das die einzige Struktur, die noch funktioniert und relativ wenig korrumpiert ist. Andererseits hat die Gewerkschaft ihre Möglichkeiten noch nicht erkannt. 1991 wurden beinahe alle Leiter in den großen Industriestandorten entlassen. Die Neuen haben dann fast alle leitenden Funktionäre der Gebietsorganisationen in Rußland und in den großen Städten abgesetzt und durch eigene Leute ersetzt. Aber der Mittelbau ist so geblieben wie er war, weil es ziemlich schwierig ist, so viele neue Leute zu finden.
Auf der Ebene der Republik ist die Situation etwas anders. Die alte Führung, die früher auf die KPdSU orientiert war, ist geblieben, versichert jetzt allerdings, daß sie die Regierung unterstützt. Deshalb gibt es in der Gewerkschaft einen harten Kampf zwischen den Erneuerern und den Traditionalisten. Trotzdem kann die Gewerkschaft zu einer progressiven Kraft werden, denn hier sind immerhin die meisten Menschen organisiert. Bei uns ist die Gewerkschaft praktisch so etwas wie die Selbstorganisation der Gesellschaft. Man könnte heute die Organisation dazu nutzen, um soziale Programme zu verwirklichen, als Druckmittel gegen die Regierung oder als Basis für eine neue fortschrittliche Bewegung.
In vielen osteuropäischen Ländern ist die Gewerkschaft aber eher dazu gezwungen, konservative Positionen zu vertreten. Sie muß die Arbeitsplätze schützen und deshalb zwangsläufig gegen Privatisierung eintreten — die aber nötig ist, um die Wirtschaft voranzubringen.
Das ist überhaupt kein Widerspruch. Ich bin der Meinung, daß das sogar eine sehr progressive Rolle ist, keine Privatisierung im großen Stil und keinen Verlust der Arbeitsplätze zuzulassen. Denn die Privatisierung, so wie sie läuft, führt zur Zerstörung eines großen Teils der Industrie. Das wirft uns um Jahrzehnte zurück.
Meinen Sie, ohne Privatisierung ginge es allen besser?
Ja, zweifellos. In den privatisierten Betrieben fällt die Produktivität viel rasanter, und die Effektivität sinkt schneller als in denen, wo das Staatseigentum erhalten wurde. Der Grund dafür ist, daß die Bürokraten, die sich jetzt Eigentum aneignen, überhaupt nicht an der Produktion interessiert sind. Sie wollen nur Eigentum und Geld, und letzteres wollen sie so schnell wie möglich in den Westen schaffen. Die privaten Betriebe werden einfach zerstört und geschlossen; das ist günstiger, als zu produzieren. Die Leute aber stehen auf der Straße.
Waren aber nicht viele Beschäftigte schon seit langem verdeckte Arbeitslose?
Das ist eine Lüge! Leute, die irgendwo sitzen und nichts tun, gibt es eigentlich gar nicht so viele. Das ist eine Reserve, falls irgendwann plötzlich mehr Rohstoffe eintreffen als üblich.
Aber welche Gesellschaft kann sich auf Dauer leisten, unproduktive Kräfte für den Tag X zu halten?
Anders ist das nicht möglich. Denn wenn man die überflüssigen Arbeitskräfte hinauswirft, dann hören auch die anderen auf zu arbeiten: Dann wird die Fabrik geschlossen, alles wird verkauft und die Räume werden im besten Fall für den Bau eines Hotels genutzt. So werden 100 Prozent der Belegschaft arbeitslos. Uns droht nicht der Übergang zum entwickelten Kapitalismus. Uns droht der Übergang vom Kommunismus zur Barbarei.
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