ANALYSE
: Der leicht begonnene Krieg, der nicht mehr enden kann

Eine kurze Erinnerung an Vorgeschichte, Verlauf und Perspektiven des afghanischen Bürgerkriegs  ■ Von Christian Semler

Keine zwei Wochen ist es her, daß der Sonderbeauftragte der UNO für Afghanistan, Benon Senan, ein optimistisches Szenario für das Ende des Bürgerkriegs entwarf: Präsident Nadschibullah werde freiwilig zurücktreten und damit den Weg freimachen für einen neutralen, allseits respektierten Übergangs-Rat, der seinerseits eine Übergangsregierung einsetzen werde — so, wie es der UNO- Plan für Afghanistan vorsah. Jetzt verbirgt sich der gestürzte Diktator irgendwo in Kabul, aber der Friede ist weiter entfernt denn je. Aus einem Mund beschwören der Weltsicherheitsrat, die USA, der Iran und Pakistan die Führer der rivalisierenden Mudschaheddin-Fraktionen, das nächste Flugzeug nach Kabul zu nehmen, um den Übergang friedlich und einvernehmlich zu gestalten. Vergeblich. Scheich Achmed Massoud, gefeierter Guerillaführer tadschikischer Herkunft und Herr über die Zugänge nach Kabul, hat den UNO-Plan für gegenstandslos erklärt. Der „Fundamentalist“ Guibudin Hekmatjar, sein paschtunischer Gegenspieler, der sich vom Süden her der Hauptstadt nähert, hatte dem UNO-Projekt ohnehin nie zugestimmt. Nach dem Krieg gegen die Gottlosen scheint ein zweiter Afghanistan-Konflikt, diesmal entlang ethnischer Linien, unausweichlich. Dessen Parteien wären die um ihre Vorherrschaft in Afghanistan fürchtenden Paschtunen auf der einen, die großen Minderheiten des Nordens, die Tadschiken, Uzbeken und Turkmenen, auf der anderen Seite.

So sehr eine solche Prognose auch die offensichtlichen Fakten auf ihrer Seite hat — sie verdunkelt die bisherige Geschichte des afghanischen Bürgerkriegs ebenso wie die Ursachen seiner möglichen, schrecklichen Fortsetzung. Der europäische Beobachter sieht die geschichtliche Entwicklung wieder im Lot — schließlich währt die Herrschaft der Paschtunen über die anderen Völker der Region und der Widerstand gegen sie bereits über zweihundert Jahre. Aus dem Blickfeld gerät dieser bequemen Sicht die simple Feststellung, daß der Krieg in Afghanistan Produkt des Ringens der zwei Supermächte Sowjetunion und USA um die Weltherrschaft war. Der sowjetisch orchestrierte Staatsstreich gegen das Daud-Regime im April 1978 entsprang eben nicht nur einem taktischen Irrtum, wie auch Breschnews Invasion im Dezember 1979 samt der Installierung der Marionette Babrak Karmal nicht „nur“ ein Akt der „offensiven Defensive“ war. Die traditionelle sowjetisch-russische Einflußnahme im „Pufferstaat“ Afghanistan war nie gefährdet. Weder zu Zeiten des Königs Zaher noch unter der Herrschaft des Usurpators Daud, noch unter den „Revolutionären“ Taraqi und Amin. Es ging vielmehr um den Export eines Entwicklungsmodells, das auf die Herausbildung eines städtischen Proletariats setzte, während die Interessen der Bauern vernachlässigt und sie gleichzeitig zu Objekten der „Kuturrevolution“ gemacht wurden. Unmittelbare Nutznießer des Militärputschs von 1978 waren Teile der städtischen Intelligenzija, denen eine Art „zweitklassiger Modernisierung“ (Oliver Roy) beschert wurde. International ging es der Sowjetunion über Afghanistan hinaus um die Destabilisierung des mit den USA verbündeten Pakistans, letztlich um die Hegemonie in der gesamten indisch-pazifischen Region.

Die USA reagierten auf die sowjetische Invasion mit dem Einfrieren des Entspannungsprozesses und einer erneuten Phase der Hochrüstung. Nach einem kurzen Moment des Zögerns begannen sie, nicht etwa die gemäßigten „traditionalistischen“ Kräfte des Widerstands zu unterstützen, sondern die radikal islamischen Gruppen. Daß sie auch nach der Machtergreifung Khomeinis und trotz des Schocks der Geiselnahme von Teheran mit dieser Politik fortfuhren, läßt nur einen Schluß zu: Die amerikanische Politik setzte darauf, daß der „Heilige Krieg“ zu einer Renaissance des militanten Islam in den zentralasiatischen sowjetischen Republiken führen und damit die sowjetische Herrschaft über die gesamte Region gefährden würde. Gemessen an diesem Ziel war es für die USA uninteressant, nach Kompromißformeln für die rasche Beendigung des Krieges zu suchen.

Der Verlauf des Krieges nötigte den USA und dem mit ihnen verbündeten Pakistan eine solche Suche auch gar nicht auf. Nach einer ersten Phase sowjetischer Überlegenheit, Folge vor allem der Massenbombardements und des massiven Einsatzes gepanzerter Hubschrauber, brachte die Lieferung amerikanischen Kriegsgeräts die militärische Wende. Gegen die Stinger-Raketen war kein Kraut gewachsen. Die Sowjets mußten sich auf die Kontrolle der großen Städte und der Überlandverbindungen beschränken. Mit fortgesetzter Kriegsdauer schwand auch die Kampfmoral der Besatzer. Mehr noch: Die von der Afghanistan-Front heimgekehrten Soldaten gefährdeten die innenpolitische Stabilität und damit die seit 1985 eingeleitete Perestroika. Gorbatschow, der die Invasion stets als kapitalen Fehler bewertet hatte, brach das Unternehmen ab, sobald sich seine Macht hinreichend konsolidiert hatte.

1980 war die Präsenz der Supermächte ebenso ein Hindernis für eine Beendigung des Krieges wie es heute ihre Abwesenheit ist. Zwar unternehmen die USA wie auch die zerfallende Sowjetunion Anstrengungen, den Konflikt „auszutrocknen“. Aber die wechselseitige Verpflichtung, keine Waffen mehr an die Kriegsparteien zu liefern, war eine Farce angesichts der angehäuften Waffenarsenale. Schwerer noch wiegt, daß die zentralasiatischen GUS-Staaten als mögliche Garanten eines Friedensprozesses ausfallen und die pragmatische außenpolitische Linie des Irans noch nicht genügend gefestigt ist, um den Versuchungen massiver Einflußnahme auf seiten der verbündeten schiitischen Gruppierungen zu widerstehen. Es fehlt mit einem Wort an Ansätzen für ein kollektives regionales Sicherheitssystem, das an die Stelle der USA und der Sowjetunion treten könnte.

Bleibt die Hoffnung, daß der Krieg nicht nur Lehrmeister künftiger Kriege ist. Das traditionelle Gesellschaftsgefüge samt seinen Loyalitäten ist seit 1979 erschüttert worden — man denke nur an die fünf Millionen Flüchtlinge außerhalb des Landes. Darin liegt die Gefahr einer fortdauernden „fundamentalistischen“ Massenmobilisierung, aber auch Chancen für die Unterstützung eines dezentralen, auf regionale und ethnisch-religiöse Bindungen Rücksicht nehmenden Wiederaufbaus. Der freilich ist nicht umsonst zu haben.