Urabstimmung im öffentlichen Dienst

■ ÖTV-Chefin Wulf-Mathies hält Streik für „unvermeidlich"/ Mehr als 770.000 Stimmberechtigte sind bis zum Freitag an die Urnen gebeten/ Noch keine Einigung im ostdeutschen Druckgewerbe

Stuttgart/Hamburg (dpa/afp/taz) — Im westdeutschen öffentlichen Dienst sowie bei Bahn und Post haben am Dienstag die Urabstimmungen über einen möglichen Streik begonnen. Die Deutsche Angestellten- Gewerkschaft (DAG) stellte in Hamburg erste Urnen auf. Flächendeckend will die DAG ebenso wie die größere Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) die Urabstimmung von Mittwoch an vornehmen. Mit dem Ergebnis der DAG-Befragung wird am Freitag gerechnet. Die ÖTV will ihr Resultat erst am Samstag bekanntgeben.

Die Vorsitzende der ÖTV, Monika Wulf-Mathies, hält einen Streik im öffentlichen Dienst jetzt für unvermeidlich. Am Dienstag erklärte die ÖTV-Chefin in Stuttgart: „Die Arbeitgeber müssen sich darauf einstellen, daß sie nach Abschluß der Urabstimmung die volle Wucht des Arbeitskampfes treffen wird.“ Seit dem Scheitern der Schlichtung vor Ostern habe es „keine neuen Signale“ der Arbeitgeberseite gegeben. Die ÖTV-Vorsitzende rechnet mit einer breiten Zustimmung der Gewerkschaftsbasis von mehr als den erforderlichen 75 Prozent für Kampfmaßnahmen: „Die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes sind mehr als verärgert darüber, wie die Arbeitgeber mit ihnen umspringen.“ Sie fügte hinzu: „Wer Lohnleitlinien vorgibt und jede Kompromißmöglichkeit ausschlägt, wer schließlich nach Gutsherrenart Zahlungen an die Beschäftigten leistet, darf sich nicht wundern, wenn er dafür von seinen Mitarbeitern die Quittung erhält.“ Die Abschlagszahlungen der Arbeitgeber in Höhe von 500 Mark belegen nach den Worten der ÖTV-Vorsitzenden, daß es ihnen „von Anfang an nicht um faire Verhandlungen, sondern um die Durchsetzung eines Diktats geht“.

Heide Simonis betonte dagegen für die Arbeitgeber, man sähe Verhandlungsspielräume lediglich beim Einbau sozialer Elemente in den Tarifabschluß. Dies könne nur bedeuten, daß die verfügbare Summe anders verteilt werde. Die weniger Verdienenden müßten dann bessergestellt werden. Allerdings bedeute dies Abstriche für die Besserverdienenden. Auch sie bezeichnete einen Streik als „nicht mehr abzuwenden“. Dem Schlichterspruch könne von den Arbeitgebern nicht zugestimmt werden. Der FDP-Fraktionsvorsitzende Hermann-Otto Solms forderte als Konsequenz aus dem Tarifstreit einen weiteren Abbau des Beamtenapparates.

Mehr als 500.000 ÖTV-Mitglieder sind bei der Urabstimmung stimmberechtigt, hinzu kommen bei der Postgewerkschaft 173.000 und bei der Eisenbahnergewerkschaft 94.000 Mitarbeiter, so daß insgesamt rund 767.000 Gewerkschaftsmitglieder zu den Urnen gerufen werden.

Bei der Urabstimmung geht es wieder um die ursprüngliche Gewerkschaftsforderung nach 9,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt. Die ÖTV sowie die Bahn- und die Postgewerkschaft fordern zudem 550 Mark mehr Urlaubsgeld. Die Verhandlungen für die 2,3 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst waren am Montag vergangener Woche endgültig gescheitert, nachdem die Arbeitgeber den Einigungsvorschlag des Schlichters von 5,4 Prozent mehr Lohn und Gehalt sowie einer Einmalzahlung von 500 Mark abgelehnt hatten. Das Arbeitgeberangebot hatte zuletzt ein Gesamtvolumen von 4,8 Prozent.

Die vierte Schlichtungsrunde für die etwa 20.000 Beschäftigten in der ostdeutschen Druckindustrie hat noch keine Annäherung gebracht. Die Tarifpartner diskutierten in Berlin über einen Einigungsvorschlag des Schlichters Heinrich Reiter, Präsident des Bundessozialgerichts. Über dessen Inhalt wurde zunächst nichts bekannt. Arbeitnehmer und Arbeitgeber tagten hinter verschlossenen Türen, eine Nachtsitzung wurde nicht ausgeschlossen. pas