»Ich würde ein paar Häuser abreißen«

■ Jugendliche in Marzahn suchen nach Freiräumen/ Der Neubaubezirk bietet keine Infrastruktur für die 42.000 Jugendlichen/ Von Morden und Messerstechereien wird ganz selbstverständlich geredet/ Sozialpsychologische Studie des Bezirksamts

Marzahn. Eines der Marzahner Plattenbauhochhäuser versperrt der Sonne den Weg zu dem kleinen Rasenstück. Ein kaputtes Sofa, nur noch aus Sprungfedern bestehend, Einzelteile von ehemaligen Sesseln und ein Bauwagen lassen von der Wiese an der Lea-Grundig-Straße in Marzahn nicht mehr viel erkennen.

Den siebenjährigen Ralf stört das wenig. Zusammen mit seinen fünf Freunden übt er sich neben einer Ansammlung rostiger Mülltonnen in Akrobatik. Zuerst klettert er auf eine kleine, runde Tonne, dann einen Meter höher auf den grünen Glascontainer, und von dort stürzt er sich im Purzelüberschlag in die Tiefe auf drei blaue ausrangierte Matratzenteile. Wer sich nicht traut, wird von hinten geschubst. Die vorbeifahrenden Anwohner beachten die Kinder kaum.

Marzahn ist ein städtebauliches Monstrum. Der ab 1979 geschaffene Bezirk ist das größte Neubaugebiet Deutschlands mit rund 60.000 Wohnungen in fantasielosen SED-Plattenhochhäusern. 170.000 Menschen leben hier. Gleichzeitig ist Marzahn Berlins kinderreichster Stadtteil: 42.000 Bewohner sind 18 Jahre und jünger. Das Durchschnittsalter der Marzahner liegt bei nur 31 Jahren. Doch gerade dieser Stadtteil bietet Kindern wenig Möglichkeiten, kindgerecht zu leben. In den Neubauwohnungen sind die kleinsten Räume die Kinderzimmer. Es fehlt an Begegnungsstätten für Jugendliche, in denen sie sich ausleben können.

Gefährliche Spiele, die manchmal brutal enden, bekommen einen großen Reiz. Anfang März kam es zum Streit unter neun- bis 14jährigen Kindern, die sich auf einer Bauschutthalde am Buckower Ring aus dem herumliegenden Material eine Höhle gezimmert hatten. Weil sie sich nicht einigen konnten, wer hinein durfte und wer nicht, bespritzten sie schließlich den neunjährigen Steffen mit Brennspiritus. Dann zündete ein Kind flugs Streichhölzer an und warf sie auf Steffen. Während die anderen Kinder wegliefen, wälzte sich der brennende Junge instinktiv im Sand. Wenig später wurde er gefunden und mit schweren Verbrennungen an Beinen und Händen ins Krankenhaus gebracht.

Ein solcher Fall von Gewalt zwischen Kindern passiert nicht jeden Tag in Marzahn, trotzdem bemerkt Bildungsstadtrat Wolfgang Unger bei den Marzahner Kindern ein »Frustverhalten, daß sich auch an den Schulen auswirkt«. Er führt es auf die soziale Desorganisation in Familien, aber auch auf die weitgehend fehlende Infrastruktur zurück. Die vorhandenen Sportvereine sind so voll, daß sie keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen können. Das eine Kino, das es hier gibt, sowie die beiden Schwimmbäder erfreuen sich zwar großen Zulaufs, reichen aber nicht aus.

Es gibt kaum Jugendcafés und Kulturangebote. »Die Struktur einer langsam gewachsenen Wohnstadt ist in Marzahn einfach nicht vorhanden«, klagt Jugendstadtrat Horst Kühne.

Wie es den Minderjährigen in Marzahn geht, fragt sich mittlerweile auch das Bezirksamt: Es gab jüngst beim Informationswissenschaftler Andreas Noack eine Studie zur sozialpsychologischen Situation der Kinder in Auftrag. Noack bemängelt das »niedrige Niveau an Infrastruktur, vor allem im geistig-kulturellen Bereich, mit Ausnahme von Sportstätten«.

»Da reicht es nicht, Abenteuerspielplätze zu bauen«, sagt er. »Den Kindern fehlen Reize, um kreativ sein zu können und soziales Verhalten zu lernen. Deswegen sinkt auch die Hemmschwelle zu Gewalttaten.« Aggression und Frustration seien das Ergebnis.

Helmut Hermes vom Jugendamt sieht das ähnlich: »Die Jugendlichen sind immer auf der Suche nach Räumen«, in denen man nicht sofort der Kontrolle der Erwachsenen unterliege. Zwölf Jugendclubs in Marzahn reichten dafür nicht aus. Erst vor kurzem hätten Jugendliche versucht, Kellerräume in einem der Hochhäuser für sich auszubauen. Das Projekt scheiterte jedoch, weil die Hausbewohner sich von ihnen gestört fühlten. Helmut Hermes weiß, daß Jugendliche unerwünscht sind, »sobald sie sich irgendwie normal benehmen, also auch qualmen und ein bißchen lauter sind«.

Der 17jährige Thomas und seine Freunde haben dieses Problem nicht — noch nicht. »Zur Zeit sind wir geduldete Hausbesetzer«, sagt Thomas. Tatsächlich sind sie die einzigen Jugendlichen in Marzahn, die sich einen selbstverwalteten Jugendclub aufgebaut haben. Sie treffen sich mitten in einem der wenigen kleinen Einfamilienhaus-Gebiete Marzahns — auf einem Gelände allerdings, daß so gar nicht ins Ambiente paßt: die sogenannte »Müllhalde«. Gemeint sind die kaputten Amtsbaracken aus DDR-Zeiten. Zersplitterte Fenster, ausgebrannte und mit wildem Graffiti bemalte Räume, herausgerissene Kabel und ein skelettierter Trabi im Hof umrahmen eine etwas besser erhaltene Baracke. Musik dröhnt aus den Fenstern.

Es ist später Nachmittag. Langsam füllt sich der kleine Raum mit den 17jährigen Schülern und Azubis, die sich auf den Sperrmüllsesseln niederlassen. Sie hören Musik, rauchen, trinken Bier und quatschen. An der Wand pinnen ein paar Motorradposter. »Vor kurzem haben wir ein neues Schloß eingebaut, damit hier nicht auch noch alles zerstört wird«, erzählt Thomas. Ein Vater spendierte den Jugendlichen, die alle aus der Umgebung stammen, sogar einen alten Kühlschrank.

Seit einem halben Jahr treffen sie sich fast täglich hier. »Wir würden hier auch noch neue Fenster einbauen«, meint Tilo vom Sofa aus, aber das lohne sich nicht, weil die Baracke demnächst abgerissen werde. »Dabei haben wir Elektromechaniker und Maler unter uns«, sagt Andreas stolz, wir könnten alles selbst renovieren.

Bis zum Marzahner Bürgermeister ist Thomas schon gerannt, um die Baracke erhalten zu können — ohne Erfolg. »Die lassen uns zwar hier drin bis zum Abriß«, aber neue Räume bekommen sie nicht. »Im Grunde interessieren die sich doch nicht für die Jugendlichen«. Wenn sie wieder auf der Straße sitzen werden und an irgendwelchen Buden rumhängen, »ist es doch klar, daß mehr passiert«, sagt Thomas und meint damit auch Prügeleien. Mit Hooligans wollten sie sich zwar nicht vergleichen, zögert Thomas, »naja, links sind wir nicht gerade«. Ob sie hier Ausländer akzeptiern würden? »Och, das Problem haben wir nicht, in Marzahn gibt es kaum welche«, weicht er aus, und Andreas fügt schnell hinzu: »Wenn man sich mit denen unterhalten könnte, dann schon«.

Micha Wieczorek ist Marzahns einziger Streetworker und hat fast täglich mit dem Thema Gewalt zu tun. Er betreut unter anderem einen Jugendclub, der nur für Skinheads offen ist. »Die Wirklichkeit vieler Jugendlicher ist beschränkt, und da muß man ihre Möglichkeiten erweitern und ihnen Räume schaffen.« Viele Jugendliche sähen nur noch sich selbst als letzte Instanz. Bei den ohnehin zu wenigen Jugendclubs würden Problemgruppen rausgedrängt.

Auf die Frage, was sich verändert habe, antwortet die 13jährige Nicole, ohne mit der Wimper zu zucken: »Seit der Wende gibt es mehr Morde hier.« Sie sitzt mit ihrer halben Schulklasse auf einer langen Treppe, die zu einem geschlossenen Bistro führt. Hundert Meter die Straße hoch fällt der siebenjährige Ralf immer noch im Purzelüberschlag vom Glascontainer. Bei schönem Wetter trifft sich die Klasse der 3.Gesamtschule nach Paukschluß auf der Treppe — wo sonst? »Bänke gibt's hier ja nicht«, sagt Nicole und schaut auf den Platz am Ende der Straße.

Ihre Freundin erzählt ganz selbstverständlich von Messerstechereien an Schulen und einem Jungen, der einem Mitschüler die Schere ins Handgelenk gejagt hatte. Langweilig sei es in Marzahn, sagt der 14jährige Dominik mit den Motocross-Handschuhen, nicht mal gute Läden gebe es hier. Was sie ändern würden, wenn sie Bürgermeister wären? »Etwas bauen, wo wir uns treffen können«, sagt Nicole, und Sandra fügt hinzu: »Ich würde ein paar Häuser abreißen, die anderen bunt anstreichen und mehr Bäume pflanzen.« Corinna Emundts