Ein neuer Begriff von Pueblo

■ Hannes Kreuser sprach mit der nicaraguanischen Dichterin Gioconda Belli

Gioconda Belli wurde 1948 in Managua als Tochter einer konservativen „High- society“-Familie Nicaraguas geboren. Sie ist die exponierteste einer Gruppe von Frauen, die nach einer exklusiven Ausbildung in katholischen Instituten, europäischen und nordamerikanischen Universitäten gegen Ende der 60er Jahre aktiv am kulturellen und politischen Leben Nicaraguas teilnahm.

1970 wurde Gioconda Belli Mitglied der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN). Nach ihrer Beteiligung an der spektakulären Geiselnahme von 1974 mußte sie das Land verlassen. Diese Erfahrungen sind die Basis für ihren stark autobiographischen Roman „La Mujer habitada“ (Bewohnte Frau), der 1988 erschienen ist.

Untrennbar verbunden mit ihrem Engagement in der Befreiungsbewegung ist ihre Rebellion als Frau gegen eine patriarchalische Gesellschaft. Ihre ersten erotischen Gedichte lösten einen Skandal aus, denn nie zuvor hat eine Frau in Nicaragua so offen von der Freude an Sexualität, an ihrem Körper etc. gesprochen. Im Exil im Mexico entstand der Lyrikband „Línea del Fuego“ (Feuerlinie), für den sie 1978 den prestigeträchtigen Literaturpreis der kubanischen Zeitschrift 'Casa de las Américas‘ gewann. Nach der Revolution arbeitete sie im Bereich der politischen Bildung, als Kulturredakteurin der sandinistischen Tageszeitung 'Barricada‘ und in der sandinistischen Künstlerorganisation ASTC. Aus dieser Phase stammen zwei weitere Gedichtbände, „Truenos y Arco Iris“ (1984) und „De la Costilla de Eva“ (1987). Seit der Wahlniederlage der Sandinisten im Februar 1990 konzentriert sie sich hauptsächlich auf ihre Arbeit als Schriftstellerin. 1990 erschien ihr zweiter Roman, „Sofia de los Presagios“ und 1991 Lyrik unter dem Titel „El Ojo de la Mujer“.

In deutscher Sprache sind erschienen: „Feuerlinie“, Gedichte 1981; „Wenn du mich lieben willst“, Gedichte 1988; „Aus einer Rippe Evas“, Gedichte 1989; „Bewohnte Frau“, Roman 1989; „Tochter des Vulkans“, Roman 1990. Alle Werke sind im Peter Hammer Verlag, Wuppertal, erschienen.

Auf ihrer Lesereise durch Deutschland sprach die taz mit der Autorin

taz: Gioconda Belli, Ihre jüngsten, unter dem Titel „El Ojo de la Mujer“ (Das Auge der Frau) veröffentlichten Gedichte sind wieder privater, intimer, nachdenklicher und erinnern so an Ihre dichterischen Anfänge in den 70er Jahren. Ist dies keine Zeit für politische Dichtung?

Gioconda Belli: Als ich mit der Poesie angefangen habe, durfte ich nicht offen politische Dichtung schreiben. So konnte ich erst im Exil in der Dichtung meine politischen Empfindungen ausleben, meine Beteiligung am politischen Kampf und alles, was damals wichtig für mich war, ausdrücken. Nach dem Sieg der Revolution lebte meine Poesie von einer Mischung aus meinem Gefühlsleben und zugleich dem, was in der Revolution passierte. Meine neuen Gedichte in El Ojo de la Mujer enthalten im Grunde genommen dieselbe Mischung. Nun leben wir aber in einer Situation, in der der politische Kampf sich in einer Talsohle befindet, und es ist eine Sache, Gedichte über den Triumph der Revolution beziehungsweise den Kampf gegen die Diktatur zu schreiben, eine ganz andere ist es, politische Gedichte über die Niederlage zu schreiben... Und das letztere ist ein Thema, für das ich mich nicht sehr erwärmen kann...

Die Protagonistinnen Ihrer beiden Romane durchlaufen an einem bestimmten Punkt einen ähnlichen Konflikt. Sowohl Lavinia aus der „Bewohnten Frau“ als auch Sofia, die „Tochter des Vulkans“, geraten bei dem Versuch, als autonome Individuen zu handeln, in Konflikt mit dem Platz, den ihre Umwelt der Frau traditionellerweise beimißt. Verbirgt sich hier eine gewisse Enttäuschung über die begrenzte Reichweite der revolutionären Transformationen, unter anderem bezüglich des Alltagslebens der Frauen in Nicaragua?

Nein. Sofia ist für mich das Symbol eines bestimmten Typs Frau, was für mich auch in dem Begriff Zigeunerin steckt. Wir Frauen, die eine bestimmte Art von Leben angefangen haben, indem wir mit alten Traditionen, Rollen etc. brechen, sind wie Zigeunerinnen, weil wir keine Heimat haben, weil wir nicht wissen, wohin wir gehen. Wir werden immer angegriffen, einer Menge Sachen beschuldigt, die gar nichts mit uns zu tun haben, wir sind Ziel von Klatschgeschichten, von Aberglaube, von Mißgunst und so weiter. Vor allem sehen wir uns immer wieder einem ganz tiefgehenden Unverständnis gegenüber. Deine Frage nach der begrenzten Reichweite ist aber hier in einem ganz anderen Zusammenhang wichtig: Es gibt bestimmte Schichten, Bereiche, in die die Revolution nicht vorgedrungen ist, das heißt, die Revolution hat in bestimmten Schichten der Gesellschaft keine grundlegende ideologische Transformation ausgelöst. Dazu gehören atavistische Bereiche, wie die Ebene der Magie, und eine weibliche, eine sehr intime und ganz besondere Welt mit ihren eigenen Gesetzen, ihren eigenen Regeln etc., und das ist die Welt der Sofia, die Welt, von der die Sofia beschützt wird. Das ist die Welt, in der alles möglich ist, die Welt der Magie, des Wunders, wo die Frau eine eigene, eine soziale Sprache hat, eine Sprache, die sehr eng mit der Erde, mit den Wurzeln, mit den Riten verbunden ist, mit den Riten der Natur. Und tatsächlich war dies eine der Ebenen, die von der Revolution überhaupt nicht erreicht wurden, obwohl die Revolution das tägliche Leben dieser Menschen verändert hat. So bewegt sich Sofia in einer Welt, in der die Revolution statfindet, zum Beispiel wenn sie von den neuen Scheidungsgesetzen redet, das heißt, wo sie durch die Revolution Rechte erhält, mit denen sie sich von dem Mann befreien kann. Aber diese andere, sehr, sehr alte Welt hat sich noch immer nicht verändert, diese andere Welt bleibt unveränderbar. Aber das ist keine Kritik, das ist vielmehr eine objektive, reale Tatsache, und gerade darin liegt auch eine riesige Herausforderung für den gesamten Prozeß der sozialen Veränderung. Denn meistens finden soziale Transformationen statt, ohne zugleich von entsprechenden ideologischen Transformationen begleitet zu sein, welche viel mehr Zeit brauchen.

Die Kulturpolitik hatte innerhalb der sandinistischen Revolution einen sehr hohen Stellenwert. Darin lag unter anderem der Anspruch begründet, die sozialen Umwälzungen der Revolution unumkehrbar zu machen. Welche Errungenschaften haben sich aus heutiger Sicht als dauerhaft erwiesen?

Meiner Einschätzung nach besteht der wesentlichste Erfolg in der Organisiertheit der kulturellen Bewegung. Obwohl die staatlichen Einrichtungen, die die Kultur fördern sollten, verschwunden sind, gibt es so etwas wie die Vorstellung eines Zusammenhalts, einer gemeinsamen, kollektiven Arbeit. So haben zum Beispiel die Tänzer und Tänzerinnen ihre Organisation erhalten und betreiben nun eine eigene Tanzschule, ein eigenes Arbeitskollektiv. Ähnlich verhält es sich bei den Theatern, die natürlich jetzt große Probleme haben, weil sie zuvor vom Staat subventioniert waren — aber es gibt einige kleine Theater, wie zum Beispiel das Teatro Justo Rufino Garrai, das während der Revolution gegründet wurde, die weiterhin arbeiten. Auf der Ebene der Schriftsteller sind in erster Linie rings um die Universität verschiedene Arbeitsgruppen entstanden. Das ist ein altes Projekt von uns, das wir nie in die Praxis umgesetzt haben. Heute machen bekannte Schriftsteller wie Sergio Ramirez und Lizandro Chavez Literaturworkshops an der Universität. Die Mehrheit der Dichter und Schriftsteller sind jetzt an die Universität zurückgegangen, was ich sehr gut finde, weil sich so ein viel besserer Kontakt zwischen den verschiedenen Generationen ergibt. Meine Generation zum Beispiel, die während der Revolution mit allen möglichen Sachen beschäftigt war, hat kaum Anteil gehabt an der Ausbildung der nächsten Generation, wir hatten kaum direkten Erfahrungsaustausch mit den Jüngeren. Die Maler haben sich auch ihre Organisation erhalten und führen auch ihre eigene Galerie, „Praxis“, wo sie ihre Ausstellungen machen können. Darüber hinaus sind aber auch neue Gruppen entstanden, die experimentell arbeiten und sehr interessante Sachen machen.

Ein zentraler Punkt der sandinistischen Kulturpolitk war die Partizipation von breiten Bevölkerungsgruppen am kulturellen Leben. Gibt es heute so etwas wie eine Widerstandskultur in Nicaragua?

Ja, vor allem im Dunstkreis von Zeitungen und Zeitschriften. Es ist aber keine Widerstandskultur auf einer Massenbasis, es handelt sich mehr um einen Widerstand auf der Ebene der Intellektuellen. So gibt es zum Beispiel eine Gruppe mit dem Namen „El Coro de Angeles“ (Der Engelschor). Rings um den Coro de Angeles haben sich viele Leute, viele Intellektuelle versammelt, und es wird weiterhin revolutionäres Theater gemacht, es werden Dichterlesungen organisiert, das heißt, es wird ein kulturelles Leben aufrechterhalten, das mit der offiziellen Kultur nicht das Geringste zu tun hat — die ohnehin praktisch nicht mehr vorhanden ist. Des weiteren hat die Universität wieder die subversive Funktion eingenommen, die sie vor der Revolution gehabt hat.

Die Beteiligung der Dichter und Intellektuellen war von eminenter Bedeutung für die Revolution und das Projekt der gesellschaftlichen Transformation in Nicaragua. Worin besteht heute, zwei Jahre nach der Wahlniederlage der Sandinisten, die Aufgabe der Dichter und Intellektuellen?

Die derzeit wichtigste Aufgabe für uns besteht in der kritischen Begleitung des politischen Prozesses von außen, denn auch die FSLN befindet sich in einer Krise. Ich selbst sehe meine Aufgabe darin, meinen privilegierten Standort auszunutzen, denn zum einen bin ich nicht direkt beteiligt, das heißt ich habe keinen Posten oder keine offizielle Funktion auf keiner Seite, und zum anderen kenne ich beide Seiten sehr gut. Ich kenne die Leute rund um Präsidentin Violeta Chamorro, die kenne ich psychologisch, und auf der anderen Seite kenne ich natürlich meine Compañeros von der Revolution, die Sandinisten. Ähnlich wie mir geht es vielen Freunden, von denen einige Nicaragua verlassen haben, andere verbringen wie ich lange Monate außerhalb des Landes, und so hat sich eine Art Gruppe herausgebildet, wobei ich dir jetzt nicht sagen könnte, dieser oder jener gehört jetzt dazu, aber es gibt diese Gruppe, ohne daß man die Mitglieder nennen könnte oder daß man sich regelmäßig trifft. Aber es gibt uns, und wir sind eine Gruppe von Leuten, sie sich viele Gedanken darüber machen, was in Nicaragua passiert, und wir denken, daß es unsere Aufgabe ist, konstruktive Kritik zu üben, Themen und neue Entwürfe in die Diskussion einzubringen, dafür zu sorgen, daß Hoffnungslosigkeit und Zynismus sich nicht ausbreiten. Es geht uns weder darum, ewig über das, was passiert ist, zu weinen, noch so zu tun, als wäre alles ein für allemal vorbei, aber wir können auch nicht einfach die Gedanken und Ideen aus den 60er und 70er Jahren, als wir diesen Kampf begonnen haben, wieder aufgreifen. Wir müssen unsere Entwürfe kritisch überprüfen unter Einbeziehung der Erfahrungen der zehn Jahre der Revolution. Es fehlt uns noch immer an einer intellektuellen Aufarbeitung dieser gesamten Erfahrung, und diese Aufarbeitung ist, glaube ich, eine der Aufgaben der Intellektuellen.

Darüber hinaus ist unsere Präsenz in der Diskussion der Kulturpolitik der derzeitigen Regierung wichtig, denn da passieren teilweise unglaubliche Barbareien, wie zum Beispiel dieser Bürgermeister, der anordnete, sämtliche Wandmalereien zu entfernen, oder der andere, der letztes Jahr sandinistische Bücher auf einer Plaza zusammentragen und verbrennen ließ, Bücher von Sergio Ramirez, [der frühere Vizepräsident], Ernesto Cardenal [Kulturminister der sandinistischen Regierung], meine Bücher, die von Omar Cabezas etc. Immer wenn so etwas passiert, muß man öffentlich auftreten, es kritisieren, versuchen, es zu verhindern. Die Kulturpolitik unserer derzeitigen Regierung ist sehr trostlos.

Das politische Projekt von DichterInnen hat für mich immer einen utopischen Gehalt. Mit welcher konkreten Utopie, was für einer Zielsetzung verbinden Sie heute den Kampf für eine andere Gesellschaft?

Daran habe ich viel gearbeitet, weil ich glaube, daß die Idee einer Utopie enorm wichtig ist. Meine Utopie hängt zusammen mit der Hoffnung an die Entwicklung eines demokratischen Projekts, aber wenn ich von Demokratie rede, möchte ich diesem Wort einen neuen Gehalt geben, weil der Begriff sehr an Gehalt verloren hat. Wenn von Demokratie geredet wird, wenn in den USA von demokratischen Staaten in Lateinamerika geredet wird, ist immer nur gemeint, daß die Leute alle vier Jahre wählen dürfen, Pressefreiheit etc. Daß die Menschen nichts zu essen haben, nichts anzuziehen, interessiert nicht. Für mich war einer der größten Fehler der Linken insgesamt eine sehr autoritäre Konzeption von Macht, und ich denke, die Herausforderung ist es jetzt, ein Konzept der Demokratie zu entwerfen, das von der Basis ausgeht. Ich denke an eine Demokratie, die in den Dörfern anfängt, wo die Menschen anfangen, Demokratie zu praktizieren, als aktive Teilnehmer, und nicht auf die Fragen begrenzt, die etwas mit der Regierung zu tun haben, sondern auch auf die Frage, wie sie ihr tägliches Leben organisieren. Die einzige Möglichkeit, die ich mir denken kann, wie wir die Falle des Individualismus durchbrechen können, der uns in eine leere, seelenlose Gesellschaft führt, in der wir alle nur noch in unseren eigenen kleinen Welten leben, liegt darin, das Zusammengehörigkeitsgefühl wieder zu aktivieren, die Wichtigkeit des gemeinschaftlichen, kollektiven Daseins, das Gefühl der Dorfgemeinschaft als aktiver Nukleus der Gesellschaft. Deshalb möchte ich mit der Demokratie gar nicht als riesigem Entwurf, sondern ganz im kleinen anfangen, und von dort an sollte sich das ausdehnen, so daß am Ende ein neuer Begriff von Pueblo, ein Volk, entsteht. Dafür benötigen wir allerdings eine grundlegende Korrektur unserer Vorstellung, wie das Volk seine Macht ausübt. Das kann auf keinen Fall die Konzeption sein, daß wir im Namen des Volkes regieren, sondern daß das Volk selbst tatsächlich an der Macht ist. Das ist meine Utopie.