Hier ist kein Warum

■ Mariam Niroumand sprach mit Claude Lanzmann, +IL=2.9+ZD=+48·e der aus Anlaß der Vorführung von „Shoah“ bei den „Jüdischen Lebenswelten“ in Berlin war

Am Sederabend des Pessachfestes, das dieser Tage parallel zu Ostern gefeiert wird, liest das Familienoberhaupt die Haggadah, die Geschichte des Auszugs aus Ägypten. Unterbrochen von festgelegten, naiven Fragen der Kinder, von Liedern und dem Essen ungesäuerten Brotes, wird die Haggadah zu einem rhythmisierten, ritualisierten Nachspiel der Geschichte, deren Inhalt allen bekannt ist. Auf das Nacherleben, auf die Resurrektion kommt es an.

Anny Dayan-Rosenman hat Shoah, Claude Lanzmanns neunstündigen Film über die Judenvernichtung, mit dem Modell der Haggadah verglichen: die einfachen, auf das Wiedererleben des Erlebten rekurrierenden Fragen Lanzmanns an seine Gesprächspartner; das Umkreisen der Stille des Todes, die eisenharte, zirkuläre Struktur, die, ähnlich wie das für Lanzmann zur „Bibel“ gewordene Werk des Historikers Raoul Hilberg, unerbittlich und unter Verzicht auf alles Anekdotische direkt auf die Vernichtung der europäischen Juden zuführt, und schließlich auch die Tatsache, daß es sich um ein Schlüsselelement des kollektiven Bewußtseins und der Imagination der Juden handelt.

Lanzmann, 1925 als Sohn assimilierter französischer Juden geboren, engagierte sich als junger Mann in der Résistance in Clermont-Ferrand, bevor er nach dem Krieg in Tübingen Philosophie studierte und an der FU Berlin einen Lehrauftrag annahm. Während seines jetzigen Besuchs in Berlin anläßlich der Vorführung seiner beiden Filme Pourquoi Israel (1972) und Shoah (1974 bis 1985), im Rahmen der Ausstellung Jüdische Lebenswelten, erinnerte sich Lanzmann, wie er damals von seinen Studenten gebeten wurde, über Antisemitismus zu lesen, und wie ihm das von der französischen Militärbehörde untersagt worden war, mit Rücksicht auf die prekäre Lage in der Ruinenstadt. Diese Vermeidungsstrategie war auch der Grund für das Schweigen, mit dem Frankreich die Rückkehr der deportierten Juden quittierte.

In dieser Situation schrieb Jean- Paul Sartre, zu dessen engstem Freundeskreis Lanzmann gehörte, seinen bahnbrechenden Aufsatz Réflexions sur la question juive, in dem er „den Juden“ als ein bloßes Konstrukt des Antisemiten, ohne Geschichte, ohne Essenz und ohne Kollektivum neben ein akkurates Porträt des Antisemiten und des Demokraten stellte (auch letzterer will keinen Juden, sondern einen Weltbürger). Gemeinsam mit Sartre gab Lanzmann die Zeitschrft 'Les Temps Modernes‘ heraus, deren Sonderausgabe von 1967 zum Israelisch-Arabischen Konflikt noch immer Standardlektüre ist.

Sartres Aufsatz blieb richtungweisend für Lanzmann, bis er 1952 nach Israel ging, um für eine Abendzeitung eine Reportage zu schreiben. Fasziniert von dem „Coming out“- Effekt, den das Land und die surrende Vielfalt der Meinungen, Biographien und Lebensformen auf ihn hatte, sah er sich unfähig, distanzierten Rapport zu geben und drehte statt dessen nach einigen Jahren einen Film,Pourquoi Israel, der neben Deadly Currents wohl zu dem Komplexesten gehört, was jemals über Israel produziert worden ist.

Er folgt einem gerade immigrierten russischen Juden in seine Satellitenstadt, einer Polizistin bei einer Verhaftung, Kibbuzniks bei einem Meeting und umarmt in der Wüste einen Museumsleiter, dem die Verlegenheit und die Lage des Landes die Nerven geraubt haben. In Häfen, Wüstenlandschaften, Industrieanlagen, Einwanderungsbehörden und Gefängnissen zeigt er das Gelobte Land als zerrissene Heimat, als gehegte monde juif. Während der Film in Frankreich sogar kommerziellen Erfolg hatte, kam er hierzulande erst jetzt ins Kino. In Israel waren die Gefühle gemischt — kein Wunder bei einem Film, in dem jemand die Staatsgründung mit der Schwäche der religiösen Bindung begründet. Einige Menschen, die er bei den Dreharbeiten kennenlernte, überredeten ihn, einen Film über die Vernichtung zu machen, und so begann er direkt nach Pourquoi Israel mit der elfjährigen Arbeit an Shoah, die ihn fast das Leben gekostet hätte.

Den Vergleich seiner Arbeitsweise mit einem religiösen Ritual, etwa der Haggadah-Lesung, lehnt Lanzmann ab. Für ihn besteht das Problem gerade darin, Rahmen, Rituale und eingeschliffene Erzählformen aufzusprengen. Er will genaue Berichte, aber keine Historisierung. Er will eine Resurrektion des Vergangenen, aber keine Sakralität.

Damit steht er im Gegensatz zu vielen Juden, die meinen, ein Verzicht auf die Einbindung des Holocaust in die jüdische Geschichte, auch in Gedenkveranstaltungen, würde die „Arbeit“ der Nazis gewissermaßen vollenden und der jüdischen Kultur, der Identitätsbildung endgültig die Überlebenschancen nehmen. Während die Ultra-Orthodoxen in Israel der Shoah durch Errichtung von Synagogen und Jeschiwoth gedenken wollen, haben nicht- orthodoxe Gruppierungen den Gedenktag der Shoah auf den 27. Nissan festgelegt, den Tag, an dem die Kreuzritter ein Blutbad unter den jüdischen Gemeinden anrichteten. Gemeinsam ist beiden die Verknüpfung von Katastrophen und Erlösung — ein Zusammenhang, der für Claude Lanzmann völlig abgeschlossen ist.

taz: Die Ausstellung „Jüdische Lebenswelten“, in deren Begleitprogramm ja auch Ihre Filme zu sehen waren, hat in Berlin einen regelrechten Boom für Judaica und heftige Kontroversen ausgelöst. Dabei ging es vor allem darum, daß die Judenvernichtung nur am Rand behandelt und ansonsten die Leistungen der Assimilation hervorgehoben werden. Wie schätzen Sie diese Situation ein?

Claude Lanzmann: Vielleicht denken die Ausstellungsmacher, daß die Leute genügend über den Holocaust wissen. Wenn es darum ginge, den Holocaust zu vergessen — auch Juden versuchen das ja oft —, dann wäre das allerdings schlecht. Aber solange der Ausstellungsbesucher beides im Kopf hat, sehe ich da keinen Widerspruch. Die Ausstellung zeigt in beeindruckender Weise, was Juden hervorbringen, wenn man eine Assimilation zuläßt, zeigt den ungeheuren Verlust, den die Deutschen erlitten haben, als das Land „judenrein“ war. Ich habe neulich schon zur Emigration der russischen Juden gesagt, daß ich gegen ihren Exodus bin, auch wenn sie nach Israel gehen. Die Juden sind das Salz der Erde.

Manche sagen, die kontinuierliche Bezugnahme auf die Shoah im Zusammenhang mit Juden würde die „Arbeit“ der Nazis vollenden und der jüdischen Kultur vollends die Überlebenschancen nehmen, daß also gerade in der Sakralisierung des Holocaust eine Chance liegt. Viele jüdische Gedenkfeiern, auch die nationalen Gedenktage in Israel, verbinden den Holocaust mit anderen Katastrophen in der jüdischen Geschichte. Wie stehen Sie dazu?

Es ist eben ein Versuch, Trost zu finden. Alles dreht sich um die Frage „Warum“ — „Warum wurden die Juden vernichtet.“ Aber darauf gibt es keine Antwort. Das sollte man nicht einmal versuchen; es ist nur ein Weg, zu vergessen, zu vermeiden. Als Primo Levi in Auschwitz ankam, sagte ihm ein SS-Mann: „Hier ist kein Warum.“ Ich denke, das gilt für die Shoah insgesamt. Die Frage hat etwas Obszönes. Man kann sie einkreisen, aber nie bis zu dem tatsächlichen Mord vordringen. Zu sagen, es war ein Verbrechen der Menschheit, und nicht an der Menschlichkeit, vermischt die Shoah mit allen anderen Massakern der Geschichte. Ich bin absolut gegen diese religiöse Haltung. Man muß desakralisieren, den Worten Raum geben, zuhören, zum reden bringen. Wer schweigt, weigert sich, etwas zu erfahren. Andererseits führt dieser Prozeß der Desakralisierung zu einer anderen, neuen Form der Sakralisierung.

Es scheint, Sie betrachten auch die Existenz des Staates Israel hauptsächlich vor dem Hintergrund der Shoah. Ihr Film „Pourquoi Israel“ beginnt in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte auf dem Berg der Erinnerung außerhalb Jerusalems.

Aber Pourquoi Israel behandelt auch noch eine Menge anderer Themen. Wenn ich zum Beispiel den deutschen Kommunisten mit seiner Gitarre zeige, der sich nach Deutschland sehnt, oder den russischen Immigranten, der sich diskriminiert fühlt. Mir geht es vor allem darum, das Desaster aus jüdischer Perspektive darzustellen.

Ihr Film „Shoah“ hat Adornos Pessimismus nun auf sich gelenkt: Kann es nach „Shoah“ noch Spielfilme über die Judenvernichtung geben? Gibt es Spielfilme, die Sie für adäquat halten?

Ehrlich gesagt, nein.

Was halten Sie von mehr experimentellen Annäherungen an das Thema, wie zum Beispiel die Filme von Ken Jacobs, der in „Urban Peasants“ nur Amateuraufnahmen seiner Framilie im Brooklyn der vierziger Jahre zeigt und so die Shoah als Abwesenheit evoziert?

Ich kenne diesen Film nicht. Aber in Shoah gibt es keine persönliche Geschichte, niemand sagt „Ich“. Die Leute, die ich interviewe, sprechen nicht für sich selbst. Ich rede nicht darüber, wie sie verhaftet wurden, wie sie entkommen sind oder sich durchgeschlagen haben. Diese Anekdoten interessieren mich nicht. Das sind alles Leute, die am Rande des Todes waren, in den Sonderkommandos, die direkt in den Gaskammern gearbeitet haben. Sie legen für die Toten Zeugnis ab. Es ist kein Film über Überlebende, überhaupt nicht.

Glauben Sie, daß es überhaupt jemals einen Spielfilm über den Holocaust geben kann, oder ist das Genre schlechthin ungeeignet?

Wenn es ein Spielfilm ist, dann ist es kein Film über den Holocaust. Das ist eine Realität, die jede Fiktion übertrifft. Man muß etwas dazwischen erfinden: Shoah ist kein Dokumentarfilm, aber auch kein Spielfilm. Wie will man das gemeinsame Sterben von Menschen in dieser Weise fiktionalisieren? Wie dokumentieren? Wenn es Dokumentaraufnahmen gäbe, etwa von einem Nazi in der Gaskammer gedreht, dann müßte dieser Film verboten werden. Das wäre der Gipfel der Obszönität. Es wäre bedeutungslos. Bilder ohne Imagination.

Wie stehen Sie inzwischen zu Sartres „Réflexions sur la question juive“, in denen er behauptete, der Jude sei nur ein Konstrukt des Antisemiten, also eine ausschließlich negative Bestimmung?

Als sein Buch 1946 herauskam, war es sehr wichtig für mich. Besonders das Porträt des typischen Antisemiten des 19.Jahrhunderts. Mir und vielen anderen Juden hat das Buch, als wir nach dem Krieg nach Frankreich zurückkehrten, erlaubt, wieder frei zu atmen. Es war sehr befreiend für mich. Inzwischen habe ich meine Meinung darüber sehr geändert — wie übrigens Sartre selbst später ja auch.

Woran arbeiten Sie jetzt?

An dem letzten Teil einer Trilogie, zu der Pourquoi Israel und Shoah die ersten beiden Teile bilden. Es wird ein Film über die Wiederaneignung von Gewalt durch die Juden, gedreht hauptsächlich in Israel. Der Holocaust war nicht nur ein Massaker an Unschuldigen, sondern auch an Wehrlosen. An Leuten, denen jahrtausendelang das technische Wissen, der Gebrauch von Waffen und auch die psychische Bereitschaft, gewalttätig zu sein, unzugänglich war. Nun tun sie es aber, und das scheint ein echtes Problem für die Christenheit zu sein.

Zum Weiterlesen:

Claude Lanzmann: Shoah. München, 1986.

Die Shoah als Element in der Konstruktion israelischer Erinnerung. 'Babylon‘, Heft2, Frankfurt am Main, 1986.

Au Sujet de Shoah. Le Film de Claude Lanzmann, Paris 1990.

Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Drei Bände, Frankfurt am Main, 1990.