Denkverzug oder -verzicht?

■ betr.: "Gewaltverzug oder -verzicht?", taz vom 15.4.92

betr.: „Gewaltverzug oder -verzicht?“, Gastkommentar von Freimut Duve, taz vom 15.4.92

Denkverzug oder -verzicht?

Wie man's nimmt, wie man's liest. Wenn der Duve-Kommentar echt ist, dann gibt es zwei Arten,ihn zu lesen: Denkverzicht oder Staats- Propaganda. Oder etwa beides?

Es war von Beginn an, sagen wir seit der Befreiung von Andreas Baader, nie die Frage, wie die „deutsche Demokratie“ die beginnende Geschichte des „Terrorismus“ noch in ihren Anfängen hätte zu Ende bringen könnte, nein, es war vielmehr die Frage, wie der Staat mit seinen differenzierten und aufeinander abgestimmten Verfolgungs- und Ordnungsinstrumentarien den besten ordnungspolitischen Nutzen aus dem Entstehen der RAF ziehen könnte: Hier wären, unter dem Demokratieaspekt, „schreckliche Irrwege“ einzugestehen.

Für den Staat und seine Amtsträger war es nie bestimmend, nach den gesellschaftlichen Ursachen des „Terrorismus“ zu fragen. Bestimmend wurde die Ausgrenzung und Kriminalisierung von Individuen und Gruppen. So möge Herr Duve die Reden anläßlich der Beerdigung von Hanns-Martin Schleyer nachlesen: „Terroristen“ als genetisch Versaute, die nur ein Ziel kennen — den Staat zu zerstören. Auch gibt es in den Bundestagsprotokollen aus dem deutschen Herbst 1977 auch für heutige Bundestagsabgeordnete noch aufschlußreiche, zur Lektüre empfohlene Texte zu entdecken.

Und diejenigen, die den Dialog versuchten, in der richtigen Erkenntnis, daß wir alle potentiell die RAF sind — was geschah denn mit denen? Oder ist die Erinnerung zum Beispiel an Peter Brückner oder an die Reaktionen auf das Buback-Gedicht Erich Frieds und Frieds Reaktionen darauf auch mit dem Duve-Etikett „Nachfolgeromantik“ zu erledigen? Und die „Meinhof-Romantiker“? Sollen damit etwa die denunziert werden, die aus der Biographie von Frau Meinhof auch Erkenntnisse gewinnen über innere Zustände dieser Gesellschaft, Zustände, die es auch heute noch zu bekämpfen lohnen könnte? Entsorgung à la Duve?

An welches Ende muß jemand (oder sein politisches Milieu) gekommen sein, der (das), unter Verleugnung aller Probleme der Funktionalisierung der RAF durch den Staat der BRD, die Beendigung der Geschichte des „Terrorismus“ durch die „deutsche Demokratie“ nicht einmal im Konjunktiv reflektiert, sondern daran sogar Beglückungshoffnungen durch das neue Deutschland „für die zündelnde Welt von morgen“ knüpft?

Ja, die ideologischen Prozesse in diesem Land waren nie so ganz unkompliziert und die Rolle bestimmter Intellektuellen-Fraktionen allzu häufig für öffentliche Kritik, auch in Ermangelung von Medien, tabu.

Angesichts der Problemgeschichte Staat-RAF seit den späten sechziger Jahren und in einer ideologisch komplizierten Situation krisenhafter innenpolitischer Zuspitzungen nicht vom Staat zu reden, wenn von der RAF geredet wird, und das aus vermeintlich linksintellektuellem Kontext, statt dessen aber das hohe Lied einer „klugen“ und „souveränen“ Demokratie zu singen — ja, auch so läßt sich Propaganda für einen Staat machen, der den Beweis seiner Dialogfähigkeit erst noch zu erbringen hätte und der selbst beginnen müßte, Gewaltverzicht zu üben, um den Gewaltverzichtserklärungen der RAF eine gesellschaftspolitisch zivile Perspektive geben zu können. Dieter Keiner, Aßlar-Werdorf