Modell-Ideal

■ betr.: "Verantwortung übernehmen", taz vom 14.4.92

betr.: „Verantwortung übernehmen“, Gespräch mit Oskar Negt, taz vom 14.4.92

Lieber Oskar Negt, toll finde ich, daß Du als einer von wenigen zu einer positiv-kritischen, praktisch orientierten Aufarbeitung des Marxismus stehst. Du bekennst Dich zu einem Teil der kollektiven Haftung und Verantwortung für das Unrecht, was im Namen von Marxismus und Sozialismus geschehen ist. Niemand kann verhindern, daß im Namen kritisch-gesellschaftsverändernden, menschlichen Denkens Unrecht geschieht oder Unrecht gerechtfertigt wird. Du hast auch recht, daß die gesellschaftsverändernde Perspektive Sozialismus, befreit werden muß von dem ganzen Schutt, den nicht nur speziell ihre Gegner, sondern eine riesige Zahl „Sozialisten“ darauf gepackt hat. Die Marxsche radikale, ins Praktische drängende, Kritik aller Verhältnisse, in denen die Menschen ausgebeutete und unterdrückte Wesen sind, wurde von uns allen als „Traditionssozialisten“ fast nie richtig ernst genommen. (Vielleicht nahm Marx sie selber nicht ernst genug, siehe Frauenunterdrückung...) Nie wieder darf von uns als „Sozialisten der Zukunft“ auch nur das kleinste Unrecht rechtfertigend hingenommen werden.

Ich sehe das auch so: „Die Ausgrenzungsgeschichte von politischen Positionen und Denkweisen beginnt in der Tat bei Marx.“ Jede kritische Denkweise, an der einfach, trotz sich ändernder äußerer Umstände festgehalten wird, schlägt in ihr Gegenteil um. „Die Gedanken sind frei...“, das heißt auch, nichts zwingt sie, von der Gesamtheit der zu ändernden Verhältnisse, also immer wieder vom Konkreten neu auszugehen, wie Marx es schon in seiner „Deutschen Ideologie“ vorgeschlagen hat.

[...]Auf die Vorstellung vom „Sozialismus als Ideal“ gehst Du überhaupt nicht direkt ein, sagst nur: „...daß man den Begriff Sozialismus ganz neu ausfüllen muß. Das heißt, daß sie (die linke Organisation) die diesen Begriff überlagernden Realitäten und erdrückenden Realitäten abräumen muß.“ Du trittst überhaupt nicht der Vorstellung vom Sozialismus/Kommunismus als Ideal entgegen. Statt dessen sprichst Du selber nur von einer neuen bloßen Begriffsklärung für Sozialismus.

Marx packt das methodisch genau andersherum an, wenn er in der gerade gegenüber einer auch damals schon großen Zahl von „Ideal“-Sozialisten in Deutschland in der „Deutschen Ideologie“ betont: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.“ (MEW 3, S.34)

Du beklagst die verschiedenen „Utopiezerstörungen“ („Dritte- Welt-Revolutionen“, „Nelkenrevolution“ in Portugal, „Auflösung der Sowjetunion und der Ostblockländer“), ohne den bei der BRD-Linken dahinterstehenden idealistischen Utopiebegriff zu kritisieren. Sozialismus/Kommunismus war für uns all die Jahre wohl nicht unsere widersprüchliche Bewegung in der Gesamtheit unserer gegenwärtig sich entwickelnden Voraussetzungen (die wir nur so politisch-menschlich hätten ernst nehmen müssen wie unser jeweilig andersdenkendes politisches Gegenüber), sondern ein Modell-Ideal, wonach wir auch unsere „kleine“ politische Wirklichkeit ausrichten wollten. Demgegenüber ist es notwendig, „eine autonome Politik zu entwickeln... Wir können nicht mehr aus geborgerter Realität politisch leben.“

Nur aus unseren jetzt bestehenden persönlich-politischen Verhältnissen heraus können wir einen Zusammenhang schaffen, der Spaß macht, der attraktiver ist als der allgewaltige private Konsum. Übrigens: „Privatheit“ benennst Du leider völlig getrennt von dem platten „Warenzirkus“, auf den sich Privates heute fast überall beschränkt. Sozialisten können leben, daß Privatheit etwas viel Tolleres sein kann und nicht Verdrängung der gemeinsamen welt- und mini-gesellschaftlichen Aufgaben bedeuten muß.

Du sprichst meines Erachtens richtig von einer ungeteilten Verantwortung [...] und möchtest, daß wir Verantwortung übernehmen „für das, was in der Ferne passiert, mit dem, was wir gemacht haben“. Ja, weil die Verhältnisse im kleinen wie im großen, angetrieben durch den Weltmarkt sich immer näher gerückt sind, haben wir eine ungeteilte Verantwortung für das, was in der Nähe und Ferne passiert. Nur spannend wird das, wenn wir klären, wie gehen wir mit denen um, die „noch“ warenorierentiert-privat sind und das auch erst mal nicht ändern wollen? Wie schaffen wir unter uns „Übriggebliebenen — einen menschlich-politischen „bunten“ Zusammenhang, der ausstrahlen kann auf diejenigen, denen die üppige, strahlende Warenwelt nicht mehr ausreichend erscheint. Klaus Meyer, Hollenstedt