Die Hinterbank will Karenztage

■ Mit ihrem neuen Vorstoß wollen CDU-Mitglieder den Arbeitgebern die Pflegeversicherung schmackhaft machen/ Es regt sich bereits Widerspruch in den eigenen Reihen/ „Nicht nur Chemie macht krank“

Berlin (taz) — Keine Lohnzahlung für Simulanten und Blaumacher, geifern die Arbeitgeber und fordern zum x-ten Mal die Wiedereinführung der drei Karenztage. Nach den Chef-Statistiken fehlen an Montagen und Freitagen mehr als doppelt so viele Arbeitnehmer an Werkbänken und Verkaufstresen wie in der Mitte der Woche. Auf rund 50 Milliarden Mark beziffern sie die Kosten für Lohnfortzahlungen für Kranke.

„Wer krank ist, ist krank!“ verwahren sich die Gewerkschaften gegen die altbekannten Angriffe der Firmenchefs, die sie seit der Durchsetzung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1969 immer wieder zu parieren haben. Streiks und eine Verfassungsklage drohten sie gestern für den Fall an, daß die Diskussion konkretere Formen annimmt. Und auch die Ärzte nahmen ihre PatientInnen in Schutz: „Die Menschen gehen nicht aus Jux und Tollerei zum Arzt, sondern weil sie sich, zumindestens subjektiv, krank fühlen“, so Bundesärztekammerpräsident Karsten Vilmar. Auch das kein neues Argument: zu häufig haben sich die Ärzte von den Unternehmern vorwerfen lassen müssen, sie gingen aus Angst vor Klientenverlust zu locker mit den gelben Scheinen um.

Dieses Mal ist die Debatte, anders als sonst, aus Koalitionskreisen angestoßen worden. Hintergrund ist der Clinch um die Pflegeversicherung, den die Koalitionspartner bis zum 1. Juni beigelegt haben wollen. Mit einem Tendenzbeschluß konnte Arbeitsminister Norbert Blüm im September die CDU zwar auf die Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung festlegen; die FDP sträubt sich aber gegen jeden Kompromiß, der den Arbeitgebern auch nur eine zusätzliche Mark für Sozialabgaben abverlangt. Der jetzige Vorstoß, den kranken Arbeitnehmern in den ersten drei Tagen den Lohn zu streichen und das so eingesparte Geld in die Pflegeversicherung zu stecken, soll die Lösung des gordischen Knoten darstellen: Offiziell zahlen die Arbeitgeber die Hälfte des neuen Sozialversicherungszweigs, tatsächlich aber, so die Logik auf der Hinterbank, tragen die Arbeitnehmer die vollen Kosten.

Aber der Schnellschuß droht fehlzugehen. Der ökonomische Effekt bei der Einführung von Karenztagen sei gering, meinte der Vorsitzende des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen, Michael Arnold. Im übrigen läge die Bundesrepublik im Mittelfeld, was Krankmeldungen angeht. Auch aus der eigenen Partei kam gestern empörter Widerstand. Walter Link, stellvertretender Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), sagte, die Arbeitnehmer hätten bereits den Löwenanteil der Kostendämpfung im Gesundheitswesen getragen. Wer einseitig die Belastung fortsetze, schaufle das Grab der Union als Volkspartei. Und auch die Arbeitgeber wollten von einer derartig finanzierten Pflegeversicherung nichts wissen — sie fürchten vermutlich, das von ihnen favorisierte Modell einer privat finanzierten Pflegeversicherung zu gefährden. Die Wiedereinführung der Karenztage aber seien ein guter Vorschlag. SPD-Chef Björn Engholm nutzte die Gelegenheit, der Regierung Unfähigkeit vorzuwerfen, „diffizile Probleme mit Gespür und Augenmaß für die soziale Balance zu behandeln“.

Die Gewerkschaften führen den Krankenstand zu einem Großteil auf die Arbeitsbedingungen zurück: zu Recht, wenn man die Zahlen für FrührentnerInnen ansieht. Von den 741.000 Menschen, die 1990 in Deutschland in Rente gingen, waren 196.300 erwerbs- und berufsunfähig. Skelett-, Kreislauf- und psychiatrische Krankheiten waren die häufigsten Ursachen. Eberhard Göbel vom Berliner Infoladen für Arbeit und Gesundheit wirft den Gewerkschaften vor, mit der ganzen Frage unzeitgemäß umzugehen und ein Tabu aufzubauen, an das niemand glaubt. „Nicht nur Chemikalien machen Leute krank.“ Hierarchieprobleme, persönliche Kränkungen und schlechte Arbeitsorganisation führen aus seiner Erfahrung aus Beratungsgesprächen gelegentlich zu Fehltagen. Und auch persönliche Probleme — seien es Liebeskummer oder Wohnungsrenovierung — seien manchmal Ursachen von Krankmeldungen. „Die individuellen Bedürfnisse und Nöte der Beschäftigten müssen ernst genommen werden“, fordert Göbel. Ein Festhalten an Errungenschaften aus der Zeit der sozialliberalen Koalition hält er nach der deutschen Einheit und angesichts des anstehenden EG-Binnenmarkts für unrealistisch. „Wir müssen die Situation positiv wenden und eine Flexibilität der Arbeitszeit erreichen.“ Annette Jensen