Massensterben nach Tschernobyl-GAU

Wissenschaftlicher Leiter der „Aufräumarbeiten“ nach dem Reaktorunfall in der Ukraine wird Mitarbeiter im Öko-Institut/ Tschernousenko kritisiert: Betonhülle für Reaktor IV nur eine Farce  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) — „Die freigesetzte radioaktive Strahlung von etwa sechs Milliarden Curie tangiert die Gesundheit aller Menschen auf diesem Planeten.“ Wladimir Tschernousenko, ehemals Chefwissenschaftler bei den Aufräumarbeiten in Tschernobyl, prognostizierte gestern in Frankfurt/Main ein Massensterben in den von dem GAU von 1986 am stärksten betroffenen Regionen der GUS. Sterben würden vor allem die aus allen Landesteilen zusammengezogenen Rekruten, die über Jahre hinweg die Aufräumarbeiten in den Todeszonen bewältigen mußten. Allein bis Ende 1991 seien etwa 10.000 Menschen an den Folgen des GAUs elend zugrunde gegangen, wie die „Bürgerinitiative Tschernobyl“ recherchiert habe. Doch trotz Glasnost und Perestroika würden die offiziellen Stellen in den GUS-Republiken noch immer von nur 31 Toten sprechen. Tschernousenko kritisierte: „Auch heute ist es noch streng verboten, über das ganze Ausmaß der Verseuchung zu sprechen. In den betroffenen Territorien leben noch Menschen ohne genaue Informationen über die Katastrophe und die tödlichen Folgen.“

Zusammen mit den Wissenschaftlern des Öko-Institutes will Wladimir Tschernousenko deshalb zunächst ein Jahr lang an einem Projekt mit dem Titel „Konsequenzen aus Tschernobyl“ arbeiten, das am 6.Jahrestag der Reaktorkatastrophe gestartet werden wird. Ziel sei es, die „konkreten Erfahrungen Tschernousenkos mit der realen Katastrophe“ aufzuarbeiten, sagte der Atomphysiker Lothar Hahn von der Darmstädter Reaktorsicherheits-Abteilung des Instituts.

Im Handgepäck von Tschernousenko befindet sich der von den an den „Aufräumarbeiten“ nach dem GAU beteiligten Wissenschaftlern erstellte brisante Fachbericht, den auch die Jelzin-Administration unter Verschluß halte. Allen an den Aktionen beteiligten Experten sei danach von Anfang an klar gewesen, daß etwa das Vollpumpen des explodierten Reaktors mit 500.000 Kubikmetern Beton ein „vollkommen sinnloses Unterfangen“ war. Mit den so verbauten 20 Milliarden Dollar, so Tschernousenko, hätte man den betroffenen Menschen wirksam helfen können. Nur aus politischen Gründen habe man alle Anstrengungen auf die Schaffung eines gigantischen Sarkophags für einen „lebenden Leichnam“ konzentriert. Der Welt sollte sichtbar bewiesen werden, daß die UdSSR in der Lage sei, das Problem zu lösen — „doch da war das gesamte radioaktive Material im Reaktorblock IV längst verbrannt“.

Tschernousenko bitter: „Ich habe den zerstörten Reaktor vom Hubschrauber aus gesehen. Der ,Topf‘ war leer — und sein Inhalt bereits über der Welt verteilt.“ Der Wissenschaftler geht davon aus, daß die Betonhülle um den Reaktorblock IV „in den nächsten Jahren“ bersten wird. Und das sei alleine aus dem Grund höchst gefährlich, weil er direkt an den weiter in Betrieb befindlichen Reaktorblock III grenze. Deshalb müßten sämtliche Reaktoren in Tschernobyl stillgelegt werden. „Wären die Reaktoren gleich nach der Katastrophe geschaltet worden, hätte man ohnehin auf die unsinnige Betonhülle verzichten können.“