Die rote Laterne am Schluß

■ Berlin vor den Kommunalwahlen (Teil 17): Der Arbeiterbezirk Neukölln ringt um Ausgleich zwischen der höchsten Einwohnerzahl Berlins und seiner kläglichen kulturellen Infrastruktur

In Rixdorf ist Musike,

da tanz ick mit der Rieke,

in Rixdorf bei Berlin.

So fröhlich der Schlager, der 1890 erstmals in der »Neuen Welt« vorgetragen wurde, auch anmutet, so wenig lustig war das Leben vieler Rixdorfer zu dieser Zeit. Bereits um die Jahrhundertwende drängten sich über 100.000 Menschen in dem Teil, der heute die Neuköllner Altstadt ist. Wohnungselend und Mietskasernen, Schlafburschen und Armut bestimmten das Leben. »Lockere Sitten« und wilde Raufereien trugen das ihrige dazu bei, dem Gebiet rund um die Hasenheide das Image eines St. Pauli von Berlin anzuhängen.

Für die Geschäftsleute wurde dieser Ruf Rixdorfs immer kreditschädigender. Im Jahre 1912 sollte mit einem neuen Namen ein neuer Anfang gemacht werden: Neukölln. 1920 wurde die Stadt mit Britz, Buckow und Rudow Verwaltungsbezirk von Groß-Berlin — mit 265.000 Einwohnern.

Heute ist Neukölln mit 320.000 Einwohnern die neunzehntgrößte Stadt der Bundesrepublik — größer als Mainz oder Karlsruhe. Schlappe 70.000 Menschen trennen Neukölln von Reinickendorf, dem zweitgrößten Berliner Bezirk. Seine Größe, so Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), sei auch das größte Problem des Bezirks. Wie eine »tibetanische Gebetsmühle« müsse man dem Berliner Senat immer wieder erklären, »daß in Neukölln die Uhren anders ticken.« Für andere Bezirke seien sechshundert Kita-Plätze, wie sie jetzt gebaut werden, viel. In Neukölln aber fehlten viereinhalbtausend Plätze. Statt sechs Kitas bräuchte der Bezirk fünfzig sowie elf Grundschulen. 45.000 Wohnungen in der Altstadt Neuköllns seien dringend sanierungsbedürftig. Zynisch bemerkt Buschkowsky: »Wir tragen immer tapfer die rote Laterne am Schluß, wenn es um Infrastrukturleistungen geht.«

Mit seiner Größe ist Neukölln ein Bezirk der Gegensätze. Vom historischen Rixdorf zur Gropiusstadt, vom Einfamilienviertel in Rudow bis hin zur sanierungsbedürftigen Altstadt, in der trotz des Großststadtcharakters abends die Bürgersteige hochgeklappt werden. Immerhin wird demnächst das erste Hotel in Neukölln gebaut. Außerdem soll an der Karl- Marx-Straße mit dem »Forum« ein ansprechendes Kultur- und Einkaufszentrum entstehen. Doch zu einer attraktiven Innenstadt fehlt Neukölln noch viel.

An einem mangelt es dem Bezirk von der Altstadt bis nach Rudow hingegen nicht: an Verkehr. Neukölln droht zum Transitbezirk zu werden. Durchreisende aus dem Süden der Republik, Tagesbesucher aus dem Umland sowie Flugreisende auf dem Weg nach und von Schönefeld stehen Tag für Tag in der Buschkrug- und Karl-Marx-Allee. CDU und SPD im Neuköllner Bezirksamt sind sich einig. Die Verlängerung der Autobahn von Tempelhof über Neukölln nach Schönefeld zum Berliner Ring muß her. Nur die AL protestiert — bisher erfolglos. Bis Ende 1993 soll außerdem die S-Bahn wieder auf dem Südring durch Neukölln fahren und einen gemeinsamen Bahnhof mit der U 8 bekommen. Die SPD würde gern auch die U 7 über Rudow hinaus nach Schönefeld verlängern, um Neukölln verkehrstechnisch zu entlasten. In Schönefeld könnte dann angesichts von 15 Millionen Flugpassagieren jährlich, ein Kreuz von U- Bahn, S-Bahn und Fernbahn entstehen. Verkehrssenator Herwig Haase sieht bisher allerdings keine Dringlichkeit beim Ausbau der U 7.

Mit dem Ausbau des ÖPNV und dem Bau von unterirdischen Tiefgaragen will die CDU dem Verkehrschaos begegnen. »Der ruhende Verkehr ist ein ebensogroßes Problem wie der fließende«, sagt Hans-Dieter Mey, CDU-Spitzenkandidat und Sozialstadtrat. Eine »absurde Vorstellung« findet Michael Wendt, AL-Jugendstadtrat, den Bau von Tiefgaragen. Statt die letzten freien Flächen zu verbauen, sollten mehr Bus- und Radwege angelegt sowie der Straßenbahnverkehr zwischen dem Süden Neuköllns und dem Umland wieder aufgenommen werden.

Weitere 10.000 Wohnungen sollen in den kommenden fünf Jahren am südlichen Rand Neuköllns entstehen. Sie würden die zweite Satellitenstadt des Bezirks bilden. Zwischen 1962 und 1966 wurde die Gropiusstadt aus dem Boden gestampft, die heute 60.000 Menschen Platz bietet. Jahre später wurden die sozialen Einrichtungen hinterhergebaut — Kitas, Freizeitheime, Schulen. Noch heute wird an der Infrastruktur gearbeitet.

Das Jugendzentrum Wutzkyalle ist gerade ein Jahr alt. Das gleiche Procedere kündigt sich auch für das geplante Neubaugebiet an. In einem Schreiben an das Bezirksamt bewilligte Finanzsenator Elmar Pieroth »nicht eine einzige Infrastrukturmaßnahme«, so Buschkowsky. Er will gegen diesen Beschluß auf die Barrikaden gehen. »Ich halte das für nicht verantwortbar«, so Buschkowsky. »Wir können doch nicht noch einmal dieselben Fehler machen.« Wenn es nicht möglich sei, Schulen und Kitas mitzuplanen, werde Neukölln sich nicht länger an der Planung für neuen Wohnraum beteiligen.

Neidisch schaut man von Neukölln zum Nachbarn Kreuzberg. Dort flössen die Gelder nur so, tuschelt es allerorten. Die Sanierung der Wohnungen sei so gut wie abgeschlossen, der Bezirk mit sozialen Projekten eingedeckt. Dabei stünde es um Neukölln bei 20.000 Sozialhilfeempfängern und vielen jungen Leuten keinen Deut besser. »Aber in Kreuzberg wurde eben am 1. Mai immer ordentlich Randale gemacht«, weiß Michael Wendt. »Wenn sich hier nicht bald was tut, kommen wir da auch hin. Dann werden wir sehen, wie schnell Gelder bereitgestellt werden.« Jeannette Goddar

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