DIES DERZEIT! Von Klaus Nothnagel

Ob eine(r) schreibend zur Wahrheit oder Lüge kommt, hat mit seinen Kräften zur Wahr-Nehmung zu tun. Und mit seiner sprachlichen Fähigkeit. Was überhaupt „wahr“ oder „falsch“ bzw. gelogen sei, hat bisher wohl nur die formale Logik einigermaßen verbindlich ermitteln können — und die ist grauenerregend langweilig, also unbrauchbar. Interessant sind für philosophisch Unverbildete wie mich, die nicht einmal wissen, was „virtuell“ bedeutet (und die darauf auch nicht im mindesten neugierig sind), jene Fälle, in denen das sogenannte Faktische einem Schreibtäter unter der Hand zur Sülze wird. In den meisten dieser Fälle liegt die Panne wohl darin, daß jemand glaubt, etwas sei faktisch, weil alle das glauben — es sei z.B. ein Ereignis, wenn zwei als Politiker verkleidete Juristen einander treffen und so tun, als besprächen sie enorm wichtige Vereinbarungen — die in Wahrheit, wie jeder weiß, der's wissen will, längst von irgendwelchen hechtgrauen Herren, die aber immerhin „Sachkenntnis“ haben, zusammengekaspert, sozusagen zur gemeinsamen Cosa Nostra gemacht worden sind.

Nachrichtenjournalisten, denen Kraft und Souveränität zur Selbstironie fehlen, schreiben Worte wie „derzeit“ statt „gegenwärtig“ oder „zur Zeit“; sie benutzen, wie Willy Brandt, als er noch soff, wichtigkeitshalber stets „dies“, wenn das graue, aber bescheidene „das“ die gleichen Dienste täte; sie faseln von „überwältigender Mehrheit“; sie schreiben schamlos „Agenturmeldungen zufolge“, wenn sie meinen „nach Agenturmeldungen“ usw. usf. Es ist zum Heulen.

Mit den Agenturmeldungen ist es ohnehin tragisch: Wer je versucht hat, irgendein beliebiges 'dpa‘-Gestammel ins Deutsche zu übersetzen, wird wissen, daß dazu im Streß einer Tageszeitungsproduktion fast nie Zeit und Kraft übrig sind. Sämtliche „derzeit“ und „dies“ allerdings könnte heute ein schlichtes Computerprogramm wegschießen. Nur käme das „tilt“ für Freund Derzeit leider schon viel zu spät: mein idiotischer Bargeldautomat sagt mir über meine zerschrammte Bankkarte: Mit dieser Karte ist derzeit keine Auszahlung möglich. Das kleine Dreckswort ist nicht mehr aufzuhalten! Würde ich den Automaten strafhalber treten, wie er's verdient — er würde wahrscheinlich entgegnen Dies war nicht fein von Ihnen!

Warum „fordern“ Bombenanschläge ihre Opfer immer? Welche Sau hat den freihändigen Newswriter-Konjunktiv erfunden? Wie ist es möglich, daß einer ohne Gefahr für Leib & Leben schreiben darf, eine „Debatte“ sei wieder „voll entfacht“ worden?

Schönster Sprach-GAU einer Nachrichtenjournalistin, seit ich versuche, regelmäßig Zeitungen durchzublättern: Irgendein Ereignis, schrieb sie, sei „Öl auf die Mühlen“ von irgend jemandem gewesen.

Everybody's darling unter den Politikjournalisten sind natürlich die Meister der entgleisten Metapher. „Es blasen die Winde des Wandels“ war, in einem hochrenommierten Blatt, der wohl berühmteste Einleitungssatz eines Aufmachers der Seite eins.

Journalistensprache verbreitet sich aus einleuchtenden Gründen rasend schnell. Um so schlimmer, daß man aus den meisten Medien einen entsetzlichen Gestank nach mieser Sprache wahrnimmt. Und wo die Sprache nicht stimmt, lohnt es gar nicht, die Frage nach Wahrheit oder „Wahrheit“ überhaupt zu stellen.