Erneut Bedenkliches

■ Eine Verlegenheitslösung? Vielleicht. Frankfurt im Schweizer Dünndruck, Suhrkamp in der 'NZZ'.

Nicht ohne Wohlgefallen, aber unbegleitet von nennenswerter Ergriffenheit nahmen wir dieser Tage ein uns zugesandtes dunkel-, fast nachtblaues Bändchen, ein sogenanntes Taschenbuch zur Hand. Auf dem Titel stand geschrieben, in feiner Kleinschrift selbstverständlich, was das Buch enthalte: „suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Verzeichnis der Bände 1-1.000 suhrkamp taschenbuch wissenschaft“. Dem ist nichts hinzuzufügen, so dachten wir, und wollten das Verzeichnis stellen, wohin es gehört: ins Gestell der Verzeichnisse und Broschüren, die uns verschlafenen RedakteurInnen morgens bei der Produktion die besten Dienste leisten: Geben sie doch unumwunden an, wieviel Seiten ein Büchlein habe, was es koste und wann es erschienen ist — jene dürren Angaben, welche die RezensentInnen gern vergessen. Beim Einsortieren allerdings entfiel dem Band ein Zettel, dessen Lektüre ein Stirnrunzeln, dann ungehemmte Lächelbildung zur Folge hatte: „Rezensionen nicht vor dem...“ besagte das Blättchen nämlich. Eine feine Idee! Und hätten wir mehr Zeit gehabt, als uns hienieden beschieden ist, wir hätten uns sicher daran begeben, alle Nummern durchzugehen, zum Beispiel 735: Frank, Philipp: Das Kausalgesetz und seine Grenzen. Herausgegeben von Anne J. Kox. 358S., 1988 (3-518-28334-0), oder auch 973: Frühwald, Wolfgang/Jauß, Hans Robert/Koselleck, Reinhart/Mittelstraß, Jürgen/ Steinwachs, Burkhart: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. 209S. 1991. (3-518-28573-4). Was hätte es da nicht alles zu sagen gegeben! Die rüde Stetigkeit, mit der, einem Kalender gleich, die Nummern in fortlaufender Folge stehen, von eins bis zu dem ersten Tausend! Die Fortentwicklung des Wissenschaftlernamens vom einfachen zum Doppelnamen (v.a. b. Fr. z. beob.), die Fortentwicklung des Wissenschaftlers selbst vom einfachen zum Gruppenwesen, die Fortentwicklung der Wissenschaften schließlich von einem Unternehmen der Erst- bis hin zur Siebtverwertung (v.a.i.Hse. Skp. z. beob.). Allein, es gebrach uns an Zeit.

Nun bedauern wir diesen Umstand. Die 'Neue Züricher Zeitung‘, bekannt für ihr grundsolides, wenn auch leicht verwittertes Feuilleton, bekannt auch dafür, die gerühmte Berner Bedächtigkeit am Zürisee zu verwirklichen, kam uns zuvor. Denn schon am Mittwoch — direkt nach Ablauf der „Sperrfrist für Rezensionen“ also — begann ihr Autor Uwe Justus Wenzel die Seite31 mit diesen stillen und doch selbstbewußten Sätzen: Unspektakulär wird in diesen Tagen ein bemerkenswertes Jubiläum begangen. Neunzehn Jahre nach dem ersten erscheint der tausendste Band der Reihe ‘suhrkamp taschenbuch wissenschaft‘. Keine Sammlung von ‘Stichworten zur geistigen Situation der Zeit', wie sie Jürgen Habermas für den entsprechenden Jubiläumsband der ,edition suhrkamp‘ veranstaltet hat, wird feilgeboten, sondern eine nüchterne Inventur: das Verzeichnis der Bände 1 bis 1.000.“

Wir überschlugen kurz, was dieser Text als Werbung — schön gestaltet selbstverständlich — den Frankfurter Verlag wohl gekostet hätte. Und wurden blaß, weil wieder mal bewiesen ist, daß man sogar dort Geld noch sparen kann, wo niemand es vermutet: im Land der Schweizer, nicht unbekannt für ihren pekuniären Verstand. Aber vielleicht, so dachten wir, ist dieser affirmative Beginn nichts als schöne List & Tücke, vielleicht verbirgt sich Satire dort, wo wir das Heischen selbst befürchten müssen. Und lasen fort das folgende: Eine Verlegenheitslösung? Vielleicht. Eher jedoch eine bewußte Askese, in der bescheidene Selbstdarstellung und Leserservice sich aufs (für beide Seiten) nützlichste verbinden. (...) Eine überaus brauchbare und in bestem Sinne positivistische Registratur überwiegend antipositivistischer geistes- und sozialwissenschaftlicher Literatur. Doch auch in diesem Band pflanzt der antipositivistische Impetus sich fort, und zwar auf die subtile Weise eines formvollendet sich selbst aufhebenden Positivismus: ‘stw 1000' verzeichnet als letzte Nummer ‘stw 1.000‘, enthält somit sich selbst und beschreibt eine Selbstreflexion, den Anfang aller Aufklärung.

Eine Verlegenheitslösung? Vielleicht. Eher jedoch eine bewußte Enthaltung, in der bescheidene Werbung und Verlagsservice sich aufs (für beide Seiten derselben Münze) nützlichste verbinden. (...) Eine überaus brauchbare und in bestem Sinne positivistische Registratur überwiegend längst amortisierter Literatur. Doch auch in diesem Text pflanzt der kritische Impetus sich fort, und zwar auf die subtile Weise einer formvollendet sich selbst aufhebenden Kritik: Die Werbung verzeichnet als letzte Größe sich selbst als Unsinn und Text, enthält somit sich selbst und beschreibt eine Selbstaufgabe, den Anfang allen Endes.

Wir schließen nun. Die 'NZZ‘ hat vollbracht, wozu wir nicht genügen konnten. Wir sprechen mit unserer Anzeigenabteilung. Irgendetwas machen wir falsch.

P.S. Wir schließen nicht. Wir überlassen das letzte Wort dem dtv-Verleger (nein, diese Erwähnung ist auch umsonst!) Heinz Friedrich: der nannte es nämlich tragisch, daß sich ein Verleger heute dieser Mittel bedienen muß, um den ramponierten Menschen der Gegenwart aus dem Sumpf seiner seelischen Abstumpfung zurückzulocken.Im selben Sumpf, am eigenen Bart herausgedrosselt: das Feuilleton der ‘NZZ‘. ES