■ PISAS "SCHIEFER" MACHT WIEDER VON SICH REDEN
: Fällt er oder fällt er nicht?

Fällt er oder fällt er nicht?

Pisa (taz) — Pünktlich ist er wieder mal, wie alle Jahre und speziell dann, wenn anderwärts Spektakuläres das allgemeine Interesse abziehen und so die Buchungslage gefährlich verändern könnte: tief unten im Süden läßt der Ätna seine Feuerströme den Rücken herabrinnen, in Rom kabbeln die Polit-Heroen um eine neue Regierung, in den Abruzzen fällt zur Unzeit Schnee — da tritt „ER“ auf, der Beliebteste aller gruselig-schönen Publikumslieblinge: der „Torre pendente“, seit sechs Jahrhunderten Wahrzeichen unbeugsamer Public- relations-Arbeit und Treffpunkt aller Brautpaare aus Frankfurt, Tokio, New York und mittlerweile auch aus Moskau.

Schief seit seiner Bauzeit, trotz des Architektenpfusches niemals geschmäht, hat er eine Kommission aus nationalen und internationalen Gelehrten ein weiteres Mal davon überzeugt, daß er nun wirklich bald den Gesetzen der Physik folgen und zu Boden stürzen wolle, mit gewisser Wahrscheinlichkeit auf das trotzig direkt unter seiner Neigungslinie verharrende Frauenkloster.

Alarm ist jedenfalls gegeben: Messungen, in nie endenwollender Menge schon fast wie die ärztlichen Bulletins vor dem Tod eines Papstes verkündet, sehen die jahrzehntelang konstanten sechs Millimeter jährlicher Zusatzneigung um gefährliche tausendstel Mikro-Millimeter beschleunigt. Die ohnehin seit Jahren gesperrte Sicherheitszone ist nun auch für Struppis und Miezen unzugänglich und wird durch unablässig mit besorgter Miene herumstolzierenden Polizisten touristenfrei gehalten. Kurz: die Gründe, nun doch noch mal zu einer letzten, der Abschiedsvisite nach Pisa zu pilgern und dem wackelnden Korkenzieher letzte Reverenz zu erweisen, vervielfachen sich. Turmnachbildungen en minuature und Made in Hongkong sind entstaubt, die Türen aller Hotels, Pensionen und Restaurants weit offen, die Preise einer späteren Erinnerung sicher.

Hinter der Hand flüstern sich die Experten zwar Beruhigung zu — das Alarmgeschrei diene vor allem dazu, die neue Regierung gleich mal mit dem Problem zu konfrontieren und zu melken, bevor sie minder dringliche Aufgaben wie das total zusammengebrochene Gesundheitswesen oder die fehlende Rentenregelung anpackt. Doch auszuschließen ist natürlich nicht, daß der Schiefe Turm sich plötzlich doch mal unter dem berühmten Gewicht eines Wassertropfens beugt und zusammenkracht.

Das Problem für die Welt der Ingenieure und Baumeister: über alles dringend darf man die Sache auf keinen Fall machen. Vor drei Jahren, als der Chef der Bauhütte eigenhändig Besucher vom Wendelgang des Turmes scheuchte, wenn Wind aufkam, geriet der damalige Staatsbauminister in regelrechte Panik: er berief nicht nur einen Rat von sechs Weisen, sondern schickte auch gleich noch einen Bautrupp, der ein schiefes Gegengerüst aufstellen und so den drohenden Fall verhindern sollte. Steht ein solches Monster erst einmal, das wissen alle Italiener, kommt es kaum wieder mal weg, denn tags danach schon wird es jemand zum archäologischen Denkmal erklären und einen Schutzmann darunter stellen. Doch der Schiefe soll einmalig bleiben, nicht als Zwilling mit einem häßlichen Metallbruder dastehen.

Auch die ins Auge gefaßte endgültige Sanierung soll bitte nicht allzu schnell vorangehen: die Stadt fährt, solange alles offen ist, mit selbsternannten Turmrettern ja nicht übel. Mal rückt ein halbes tausend Eleven des weltberühmten Massachussetts Institute of Technology an und legt den danach erarbeiteten Rettungsplan (einen Plastikmantel, was sonst) via Satellit Millionen begeisterten TV-Sehern vor. Dann wieder versammeln sich Hunderte japanischer Busse, um die Hängebrückenversion ihrer Star-Statiker ins Bild zu nehmen. Alternativ preisen deutsche Ingenieure vor Ort und mitgebrachtem Publikum ihre Betonkopfversion, nach der der hängenden Seite ein Zementkissen untergeschoben werden soll, das mächtige Heber dann Millimeter um Millimeter lupfen.

Natürlich nicht zu stark, denn dann wäre der Schiefe Turm ja gerade, die Attraktion dahin. Damit auf diese Idee keiner kommt, haben die Weisen des Ministers schon mal vorgebaut: wird der Turm, so verbreiten sie, um mehr als fünf Zentimeter gelupft, gleich ob mit Beton, Brücke oder Plastik, gerät die innere Statik so durcheinander, daß er wirklich einstürzt — nach der anderen, der nichtgeneigten Seite.

Werner Raith