DEBATTE
: Ihr Vergangenheitsficker!

■ Rede an die deutsche Nation von einem Österreicher

Verflixte Deutsche! Ihr seid ja pervers! Andere Völker bumsen mit ihrer Gegenwart und Zukunft und finden das geil. Ihr aber habt nichts im Sinn als die Vergangenheit zu bewältigen/verbewältigen/vergewaltigen.

Zugegeben, Nekrophilie ist lustvoller als Normalverkehr. Dennoch! Zweimal ist einmal zuviel. Noch habt Ihr eurer NS-Vergangenheit die Gurgel nicht zugedrückt, geradezu im Gegenteil, und schon drückt Ihr erfolgreich auch Eurer KP-Vergangenheit die Gurgel nicht zu.

Aber jede Mahnung ist sinnlos. Von der Vergangenheitsfickerei kriegen die Deutschen nicht genug. Dabei fehlt die Potenz! Kaum steht er Euch halbwegs — ach, der wiedervereinigte deutsche Koloß mit dem mickrigen Genscher-Pimmel — bumms, fällt er schon wieder um.

Statt einem richtig orgiastischen Vergangenheitsfick löst sich alles auf in lauter kleine miese Schmusereien. Kaum ist Einer was geworden, schießt ihn der Andere ab mit dem Stasipfitschipfeil. Kaum ist der Andere was geworden — deswegen hat er ja den einen abgeschossen —, schießt ihn ein Dritter ab mit dem Stasipfitschipfeil. Und immer so weiter. Ein Land aus lauter Stolpes. Viele kleiner als der Stolpe, und nicht wenige größer. Was erwartet man denn? Sollen alle die kleinen Stolpes vielleicht begeistert sein, daß der große Stolpe bekleckert wird von oben bis unten?

Je mehr der große Stolpe bekleckert wird, desto mehr fühlen sich auch die kleinen Stolpes bekleckert. Sie haben das gar nicht gern. Es wird ihnen so stolpig dabei. Also ein wirklich sauberer Widerständler war nur, wer nicht überlebte. Du hast überlebt, also bist du ein Stolpe.

Erwartet man Begeisterung, daß der letzte DDR-Eingeborene, der noch auf einem Häuptlingssessel sich gehalten hat, nun bald ersetzt wird durch den nächsten tugendhaften Westmenschen? Tugend ist Mangel an Gelegenheit. Unschuld ist Mangel an Versuchung. Die Westmenschen sind Widerlinge. Ein schön bekleckerter Stolpe oben über lauter schön bekleckerten Stolpes unten — das gibt Heimatgefühl.

Es ist ja gar nicht wahr, daß die Westmenschen Tugendbolde sind. Im Gegenteil. Aus der NS-Zeit gingen alle Deutschen hervor als Willfährige — aus der KP-Zeit alle Ostdeutschen eben auch.

Pharisäer Ihr!

Euer Antifaschismus war nicht gleichzeitig mit dem Faschismus, sondern hatschte hinterdrein, als alles vorbei war. Euer Antifaschismus war nicht Gegner des Faschismus, als es gefährlich war, sondern dessen Nachfolger, sobald es zweckmäßig war.

Im Westen war es leicht, antikommunistisch zu sein. Leicht und zweckmäßig.

Der westliche Antikommunismus war, solange es einen Kommunismus gab, ein Selbstläufer. Jetzt zeigt sich, es gibt was, das noch besser von selbst läuft: der Antikommunismus ohne Kommunismus. Hast Du einen Feind — und Carl Schmitt war böse, aber nicht blöde, als er definierte: Politik ist das Verhältnis zwischen Feinden — bist Du also Politiker und hast daher Feinde, kille sie mit Stasiakten.

Gehst Du in die Politik, vergiß die Stasiakten nicht.

Der westliche Antikommunismus, wie häßlich er auch war, hatte den edlen Zweck, die westliche Demokratie, wie häßlich sie auch war, stärker zu machen als ihre kommunistischen Feinde. Jetzt ist dieser Zweck glorreich erfüllt, und der Antikommunismus wird aus großen Scheinen umgewechselt in politisches Kleingeld. Jetzt sind die Mittelstreckenraketen aus der Mode, und jeder schießt auf jeden mit den selbstgebastelten klitzekleinen Fernlenkwaffen, angetrieben mit Brennstoff aus den nie versiegenden Stasiquellen.

Irgendwie verdienen die Ex- DDRler das Mitgefühl der Österreicher. Wir Österreicher sind Meister in Vergleichen, die so schrecklich hinken, daß nicht einmal das Gegenteil wahr ist. Auch wir durften uns nach dem Anschluß 1938 nicht mehr mit dem gewohnten einheitlichen Namen nennen, sondern mit einer unhandlichen Mehrzahl. Wir waren „die Alpen-und Donaureichsgaue“. Ihr seid jetzt „die neuen Bundesländer“.

Gebt Eure Identität in der Einheitsgarderobe ab, sonst seid Ihr Kommunisten.

Seid Ihr aber nicht. Im Gegenteil. Wie wir Österreicher begeistert waren auf dem Wiener Heldenplatz, wart Ihr begeistert am Brandenburger Tor.

Kurz war die Begeisterung bei beiden Anschlüssen, und lang die Ausnüchterung. Aber wie wir Österreicher keinen Aufstand machten, werdet Ihr DDRler keinen Aufstand machen.

Wir Österreicher waren Würmer für den großdeutschen Fisch; wie wir ihn liebten, den Hai! Ihr DDRler seid Würmer für den großdeutschen Fisch; wie Ihr ihn liebt, den Hai! Hai! Hei! — Irgendwas fehlt noch am Ende.

Ich kann Euch auch sagen, was fehlt. Es fehlt, daß ihr die Vergangenheit nicht richtig gefickt habt. Die Verbewältigung der Vergangenheit ist mißlungen. Jetzt verbewältigt sie Euch, es ist eine moderne, aufgeklärte Dame. Sie fickt zurück.

Jetzt liegt Ihr da, unten, und die Dame Vergangenheit sitzt oben rittlings auf Euch. Eine peinliche Situation.

Jedoch wäret Ihr keine Deutschen, wenn Ihr die Peinlichkeit bemerktet. Nein. Immer seid Ihr nie schuld. Immer ist es das Schicksal. Früher habt Ihr Euch manchmal verplappert, dann sagtet Ihr: das deutsche Schicksal.

Jetzt seid Ihr wieder groß und mächtig, so groß und mächtig wie noch nie in Eurer Geschichte. Und schon wieder wollt ihr es nicht gewesen sein. Sondern das Schicksal oder schlimmstenfalls Kohl. Ihr nicht. Das ist schändlich, das schadet der deutschen Seele. Geht in Euch, bessert euch, Deutsche, seid Deutsche.

Laßt Ihr Euch nicht belehren von mir, so vielleicht von einem der größten Historiker deutscher Zunge, mit einem tschechischen Namen, dem Österreicher Johann Nestroy (das heißt auf Tschechisch ungefähr: der Nicht-Aufbauer, der Niederreißer).

In Nestroys Posse Familien Zwirn, Knieriem und Leim oder Der Weltuntergangstag äußert sich der große Geist Fatum wie folgt: „Es ist etwas Prächtiges, das Schicksal zu sein, man tut rein gar nichts, und am Ende heißt's bei allem, was geschieht, das Schicksal hat es getan.“

Insbesondere, daß in der deutschen Geschichte immer etwas Fürchterliches geschieht, schieben die Deutschen immer dem deutschen Schicksal in die Schuhe, statt in ihre eigenen. Der Pole Nietzsche, der als deutscher Historiker erst hinter, aber gleich hinter den Böhmen Nestroy zu reihen ist, bemerkt in Jenseits von Gut und Böse sehr gut und sehr böse:

„Fürchterliche Erlebnisse geben zu bedenken, ob der, welcher sie erlebt, nicht etwas Fürchterliches ist.“

Ja, Ihr Deutschen seid etwas Fürchterliches. Ihr seid die größten Witzbolde der Weltgeschichte. Erst geht Ihr immer unter, aber es ist nur ein blutiger Scherz, dann steht Ihr immer wieder auf, das erst ist Euer deutscher Ernst.

Der große Voltaire hat aus dem Geschäft des Historikers den möglichen Schluß gezogen, daß die Geschichte eine Kette von Verbrechen ist, und daraus wieder den unmöglichen Schluß, daß die Geschichte abgeschafft werden muß. Einen Schmarrn. Sie geht weiter, sie fährt drüber, über alle Voltaires.

Die Kette der Verbrechen in der Geschichte enthält nichts Vergleichbares, außer daß jedes Verbrechen in ihr unvergleichlich ist. Jedes Verbrechen in der Geschichte schreit gesondert zum Himmel und wird gesondert gerächt bis ins siebente Glied.

Es gibt einen Antifaschismus, der ist so antifaschistisch, daß er neuen Faschismus erzeugt, damit er etwas zu bekämpfen hat. In bester schlechter Absicht hebt er aus der unvergleichlichen deutschen Geschichte die unvergleichlichen deutschen Verbrechen heraus, und allen Rest der deutschen Geschichte streicht er ersatzlos.

Nach der ohnehin vorgesehenen Rache Gottes bis ins siebente Glied werkelt der unversöhnliche Antifaschismus noch am achten, neunten, zehnten Glied. Aber Antifaschisten verfehlen ihren Beruf, wenn sie in ihrer höchst nötigen Rüstkammer keine Verzeihung und keine Versöhnung haben.

Bedenkt dies, Ihr deutschen Vergangenheitsficker. Nicht Verbewältigung, sondern Liebe. Alles andere ist nicht pervers genug. Günther Nenning

Der Autor, Philosoph und Publizist, lebt als Sozialist auf freiem Fuß in Wien.