Säuglingssterben durch Tschernobyl?

Statistik über Babytod in Westdeutschland zeigt Ausschläge, die auf Tschernobyl zurückgehen könnten/ Bremer Studie von 1989 bestätigt/ Berliner Wissenschaftler vermuten Down-Syndrom durch kurzzeitige Belastung mit radioaktivem Jod-131  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Berlin (taz) — Ergebnisse einer Studie des Münchener Wissenschaftsladens deuten darauf hin, daß durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl möglicherweise 300 Babies in Deutschland totgeboren oder in den ersten sieben Lebenstagen gestorben sind. Der Physiker Alfred Körblein hatte sich die Mühe gemacht, die Säuglingssterblichkeit von 1975 bis 1990 mit Hilfe von Daten des Statistischen Bundesamtes auf mögliche Auswirkungen der Reaktorkatastrophe in der Ukraine zu untersuchen. Eine ähnliche Studie Bremer Wissenschaftler hatte vor drei Jahren einen solchen Zusammenhang nahegelegt.

Körblein stellte fest, daß die Säuglingssterblichkeit in Westdeutschland zwar auch 1986 und 1987, wie nach dem langjährigen Trend zu erwarten, zurückging. Der Jahreswert für 1987 aber lag deutlich über der Trendkurve, die sich aus der Säuglingssterblichkeit der Jahre 1975 bis 1990 entwickeln läßt. Körbleins Zahlen bestätigen damit statistische Zusammenhänge, die die Bremer Physiker in einem Beitrag für das angesehene britische Medizinjournal 'Lancet‘ zusammengetragen hatten. Der 1987er Wert sei „der einzige Wert im betrachteten Zeitraum, der außerhalb des 99-Prozent-Vertrauensbereichs liegt“ so der Münchner. „Der Verlauf der Säuglingssterblichkeit verdient deswegen eine genauere Betrachtung in den Monaten nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.“

Genauere Untersuchungen gab es Ende der achtziger Jahre nicht. Das Bundesgesundheitsamt (BGA) hatte 1987 lediglich eine Infratest-Studie auf den Weg gebracht, die darauf abzielte, zu zeigen, „daß die Angst der Schwangeren und als mögliche Folge davon eine Erhöhung des Nikotin-, Alkohol-, und Medikamentenabusus“ für Beeinträchtigungen der Schwangerschaft verantwortlich sein könnten. Selbst BGA-Professor Konrad Tietze, der es für eher unwahrscheinlich hält, daß Tschernobyl-Auswirkungen auf die Baby- Sterblichleit wissenschaftlich zu belegen sind, kritisierte diese Studie als „etwas dilettantisch“.

Am Institut für Strahlenhygiene der Bundesanstalt für Strahlenschutz arbeiten derzeit Wissenschaftler für das bayrische Umweltministerium an einer Landesstudie über Babysterblichkeit nach Tschernobyl. Die jedoch bezieht sich bisher nur auf die Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr in einzelnen bayerischen Landkreisen. Diese Zahl wird jährlich erhoben. Bislang haben die Wissenschaftler keinen Effekt ausmachen können. Bernd Grosche, einer der Wissenschaftler, gibt aber zu, daß es „durchaus denkbar“ sei, daß ein Tschernobyl-Effekt durch die Methodik verwischt wird. „Den Fehler nehmen wir in Kauf.“ Sonst drohten andere statistische Fehlerquellen. Ganz wohl war Grosche und seinen Mitstreitern aber nicht. Jetzt sind sie nämlich dabei, die Sterbefälle in den ersten vier Lebenswochen gesondert zu betrachten. Trotzdem: „Bislang sehen wir keinen Effekt“, so Grosche.

Körblein hatte nicht nur die jährliche, sondern auch die Babysterblichkeit nach Monaten in ganz Westdeutschland ausgewertet. Seine Analyse zeigte Abweichungen in den Monaten Dezember 1986 bis Februar 1987 und November/Dezember 1987. Die Säuglingssterblichkeit in diesen Monaten liegt danach in der Sprache der Statistiker bis zu drei Standardabweichungen über normal. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine solche Abweichung eintritt, liegt nach Körblein bei einmal in 50 Jahren. 1986/87 waren zwei solcher Abweichungen innerhalb nur eines Jahres zu verzeichnen.

Körblein vermutet nun, daß die Reaktorkatastrophe vor allem über die Nahrung zur erhöhten Säuglingssterblichkeit beigetragen hat. Das staatliche Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit (GSF) habe nämlich errechnet, daß die Konzentration von radioaktiven Cäsium-137 in Milch und Rindfleisch direkt nach der Katastrophe und im Winter 1986/87 besonders hoch gewesen sei. Erklärung: Im Mai hatten die Kühe das frisch verseuchte Gras und im Winter das verseuchte Heu aus dem Frühsommer gefressen. Da Milchprodukte aus dem besonders belasteten Bayern auch in Norddeutschland auf den Tisch kommen, wären Auswirkungen in ganz Deutschland nicht unwahrscheinlich.

Die biologische Halbwertszeit radioaktiven Cäsiums im Körper der Mutter liegt bei etwa 70 Tagen, argumentiert Körblein. Das heißt, bei andauerndem Konsum verstrahlter Lebensmittel baut sich die Belastung über zwei Monate auf. Die Hauptbelastung für Embryos erfolge also mit einer gewissen Verzögerung nach der Belastung der Milch. Rechne man nun noch die etwa sechs Monate von der empfindlichen Frühphase des Embryos bis zur Geburt dazu, zeige sich der Anstieg der Säuglingssterblichkeit „gerade dort, wo er auch gefunden wurde“.

Während die statistische Methodik Körbleins von mehreren befragten Wissenschaftlern als solide bezeichnet wurde, gab es Zweifel an der Milch-Rindfleisch-Hypothese. „Ich finde das gewagt“, so Jörg Pelz vom Humangentischen Institut der FU Berlin. „Aber von den Daten her ist etwas da.“ Bleibt der Einfluß der Reaktorkatastrophe auf die Säuglingssterblichkeit wissenschaftlich umstritten, so verdichten sich die Hinweise doch immer mehr, daß Tschernobyl zum Anwachsen der Down-Syndrom-Fälle in der Bundesrepublik beigetragen hat.

Schon 1987 hatte das Humangenetische Institut der FU Aufsehen erregt, als es darlegte, daß im Januar 1987 in West-Berlin statt normalerweise zwei Kinder zehn Kinder mit Trisonomie 21 zur Welt gekommen waren. Die Wissenschaftler ließen damals ihre Ergebnisse bundesweit überprüfen. Dabei zeigte sich keine so starke Erhöhung, obwohl im radioaktiv am stärksten belasteten süddeutschen Raum „in der kritischen Zeit die höchste Zahl an Fällen beobachtet worden ist“, so Professor Karl Sperling, Leiter der Berliner Gruppe. „Die süddeutschen Werte waren relevant.“ Für die immens hohen Berliner Zahlen lieferte das aber keine Erklärung. Inzwischen glauben die FU-Wissenschaftler eine Erklärung gefunden zu haben. In Berlin sei die Aufnahme von radioaktivem Jod-131 aus der Luft besonders hoch gewesen. Entscheidend dabei ist neben der hohen Belastung der Atemluft mit Jod-131 nach dem Super- GAU, daß BerlinerInnen mehr als andere BundesbürgerInnen an Jodmangel leiden, was die Aufnahme des kurzlebigen Strahlers weiter fördert. Die kurze Halbwertszeit des Jod-131 (acht Tage) wiederum würde dann den praktisch auf einen Monat beschränkten Effekt auf die Neugeborenen mit Down-Syndrom erklären. Fazit sechs Jahre nach Tschernobyl und fast drei Jahre nach der Bremer Studie: Nur langsam lichtet sich der Nebel.