»Ich bin eben ein rühriger Gewerkschafter«

■ Heinrich Sierp ist heute einer der ÖTV-Streikposten/ Der Ex-Busfahrer engagiert sich seit zwanzig Jahren im BVG-Personalrat/ Seine Karriere begann mit dem Verteilen selbstgefertigter Flugblätter

Um halb fünf Uhr morgens ist im BVG-Fahrerraum reger Betrieb. Signalgelbe ÖTV-Plakate verkünden an den Türen und Fenstern den Grund: »Urabstimmung jetzt« befehlen sie, obwohl der Aufruf nicht mehr nötig wäre. Denn daß gestreikt werden muß, steht für die Busfahrer sowieso fest. Heinrich Sierp sitzt hinter dem Wahltisch und streicht sorgfältig die Namen der Gewerkschaftskollegen, die zur Urabstimmung kommen, aus der Liste. Nicht ohne nachdrücklich zu empfehlen, wo das Kreuzchen auf dem Stimmzettel landen soll. In dem zur Wahlurne umfunktionierten Karton liegen bereits über 300 Stimmzettel, die erforderliche 75-Prozent-Marke sei damit bei den BVG-Busfahrern überschritten, vermutet Sierp.

Wenn der 55jährige nach seinem Beruf gefragt wird, antwortet er, daß er Busfahrer sei. Dabei befördert er schon lange keine Fahrgäste mehr, sondern springt höchstens mal für Kollegen ein, »um mitzukriegen, wie es auf den Straßen läuft«. Seit 20 Jahren vertritt er die Busfahrer der BVG als von der Arbeit freigestellter Personalrat, und seit 1981 sitzt er im Gesamtpersonalrat des 27.000 Beschäftigte zählenden Verkehrsbetriebes.

Wie am Tag zuvor beginnt am Donnerstag seine freiwillige Schicht im Urabstimmungsbüro um drei Uhr morgens. Doch Dabeisein ist alles: »Ich bin eben ein rühriger Gewerkschafter, und in so einer Situation kann ich einfach nicht zu Hause bleiben.« Außerdem mache es Spaß, die alten Kollegen zu treffen. Im blauen Jackett mit BVG-Aufnäher stehen die Busfahrer um den Tisch herum und unterhalten sich schimpfend mit dem Gewerkschafter. Der Streik sei bitter nötig, schließlich ziehe einem »Vater Staat« das Geld aus den Taschen, und die steigenden Mieten ließen vom Gehalt kaum etwas übrig.

Zwischen den schimpfenden Blaujacketts macht sich der leicht untersetzte Heinrich Sierp wie ein freundlich gemäßigter Zuhörer aus. Ein echter Busfahrer ist er wohl doch nicht mehr — 20 Jahre Personalratstum hinterlassen eben Spuren. Für seine Kollegen, unter denen er als »guter Ansprechpartner« gilt, ist er im Moment vor allem der Streikratgeber: Ab wann sind die Streiklokale geöffnet; welches Streiklokal ist für mich zuständig; wo kann ich meinen Streikausweis abholen?

»Eigentlich wäre es mir lieber, wenn es keinen Streik gäbe und es im Vorfeld schon eine Einigung gegeben hätte«, sagt Sierp, der sich noch gut an den ÖTV-Streik von 1974 erinnern kann. Doch der Druck der Mitglieder auf ihre Gewerkschaft sei hoch und die Stimmung gereizt. »Die Kollegen orientieren sich an den guten Abschlüssen der anderen Gewerkschaften.« Deswegen die ganze Stadt lahmzulegen findet Sierp zwar nicht gut, »aber wir müssen ein Signal setzen«. Andererseits reize ihn das »Streikgefühl«, das eigene Kribbeln im Bauch und die allseitige Aufregung, ob es zur Abstimmung kommt.

Zwei Stunden später in der ein paar Schritte entfernten BVG-Kantine. Heinrich Sierp verschränkt die Arme und lehnt sich auf den Tisch. Aus seinem zwei Knöpfe weit geöffneten Hemd blitzt eine Goldkette. »Mein Vater hat mir die soziale Einstellung mitgegeben«, erzählt Sierp, daß er ohne seinen alten Herrn wohl nicht Personalrat wäre. Sierp wuchs in einer Arbeiterfamilie in Westfalen auf. Der Vater, »ein echter Sozialdemokrat und Nazihasser«, war Werksmeister in der Textilindustrie. Weil das Geld für die Oberschule nicht reichte, mußte Sierp mit vierzehn eine Ausbildung als Textilfacharbeiter beginnen.

Ein Erlebnis aus seiner Lehrzeit geht ihm nicht aus dem Kopf. »Bei einem Streik war es den Auszubildenden verboten, sich zu beteiligen. Ich hatte deswegen Angst zu streiken, aber mein Vater bestand darauf, daß ich auch zu Hause bleibe, weil ich ein Recht auf Streik hätte.« Er fühle sich als politischer Mensch, sagt Sierp, den Kopf auf die Hand mit der nie ausgehenden Zigarette gestützt. Wenn er redet, mischt sich ein leichter westfälischer Tonfall mit dem Berliner »det«. Natürlich sei er SPD- Mitglied, aber vor allem Gewerkschafter. Seine zwei Töchter führten die Familientradition weiter. Auf Vaters Rat hin traten sie bei Berufsbeginn in die ÖTV ein, »sonst wäre ich maßlos enttäuscht gewesen«.

Mit 22 Jahren kam er wegen seiner Frau nach Berlin und fand zunächst bei der BVG als Busschaffner Arbeit. »Eigentlich wollte ich nicht lange dort bleiben«, aber daraus wurde nichts. Seine Karriere als Arbeitnehmervertreter begann mit dem Verteilen von selbstgefertigten Flugblättern über die Rechte von Arbeitnehmern. Busfahrer jedenfalls will er nicht mehr sein, »in dem Alter macht das keinen Spaß mehr.« Solange er »gewählter Funktionär« sei, wolle er keine andere Arbeit annehmen.

Mittlerweile hat der Personalrat, der samstags gerne Sportstudio schaut, unzählige Nebenämter in der Gewerkschaft. Freizeit bleibt ihm kaum mehr, was vor allem seine Frau ärgert. »Aber ich nehme sie so oft wie möglich mit«, auf jeden Fall werden sie zusammen zum traditionellen Marsch am 1. Mai gehen.

Wenn heute gestreikt wird, ist sicher: Der BVG-Fahrerraum wird wie ausgestorben sein, die Busse werden im Hof bleiben, und Heinrich Sierp wird ab null Uhr als Streikposten am Tor des Betriebshofes stehen. Wahrscheinlich aber schon zehn Minuten früher. Corinna Emundts