GASTKOMMENTAR
: Kabul auf dem Weg nach Beirut

■ Können die verfeindeten Mudschaheddin-Führer über ihre Schatten springen?

Nicht die Stärke der Mudschaheddin hat diese nach Kabul gebracht, sondern die Desintegration der Regierung und der sie tragenden Kräfte — so wie die Stärke der Regierung in den letzten drei Jahren vor allem in der Schwäche und Zersplitterung der Mudschaheddin bestanden hatte. Jetzt haben die Mudschaheddin das plötzliche Vakuum gefüllt und sind ohne Gegenwehr in Kabul eingedrungen, nachdem sie es bis vor einiger Zeit nicht einmal vermocht hatten, Provinzstädte zu erobern und zu halten.

Heute wird oft davon gesprochen, daß der „Fundamentalistenführer“ Hekmatyar gegen den „Gemäßigten“ Masoud kämpfen würde. Überhaupt wird häufig zwischen einem „gemäßigten“ und einem „fundamentalistischen“ Mudschaheddin-Flügel unterschieden. Aber das ist irreführend. Diese Argumentation soll nur nahelegen, daß es aus westlicher Sicht „gute“ und „schlechte“ Mudschaheddin gibt. Dieses Schema verdeckt mehr, als es erhellt: Die Untaten des „bösen“ Hekmatyar, der heute allgemein als der Vorzeigefeind identifiziert wird, sind lange schon bekannt. Hekmatyar und seine Partei waren immer Fanatiker, mehr noch von Machtbesessenheit als religiösem Eifer inspiriert. Sie sind als Opium- und Heroindealer bekannt, haben sich mit anderen Mudschaheddin schwere Kämpfe um die Kontrolle der Mohnfelder und Heroinlabors geliefert. Die Zahl ihrer Folter- und Mordopfer ist beträchtlich. Dennoch hat ausgerechnet Hekmatyars Partei jahrelang etwa zwei Drittel aller US-Hilfsgelder für die Mudschaheddin erhalten. Hekmatyar spielt nur deshalb heute eine so wichtige Rolle, weil er durch den pakistanischen Militärgeheimdienst ISI und die USA massivst gefördert wurde — seine Truppe war eine schlagkräftige militärische Einheit im kalten Krieg gegen die sowjetischen Interventionstruppen.

Das Problem Afghanistans ist aber nicht allein Hekmatyar. Es liegt in der weiteren Fragmentierung der Gesellschaft. Das Land wird jetzt von einer bunten Mischung kriegerischer warlords beherrscht, deren Macht sich auf Waffengewalt gründet. Hekmatyar ist einer der besonders wichtigen warlords. Bewaffnete Stammesführer und Milizen, die Reste der früheren Armee, der paramilitärischen Sarandoi und des Geheimdienstes, bewaffnete Einheiten religiöser und ethnischer Minderheiten und Dutzende verfeindeter Mudschaheddin- Einheiten sind bis an die Zähne gerüstet. Die meisten dieser Einheiten existieren aufgrund persönlicher, familiärer, stammesmäßiger und ähnlicher Loyalitäten, aus wirtschaftlicher Not und Beutegier, aus Mangel an Alternative. Waffenschmuggel und Drogenhandel sind eben nicht spezifisch für Hekmatyar allein. Auch Masoud ist hier keine Lösung, sondern Teil des Problems. Zwar ist er eher „pragmatischer“, weniger fanatisch, und vor allem: ein Gegengewicht zur Hekmatyar. Aber auch er ist — nach Auskunft pakistanischer Beamter — in den Drogenhandel verwickelt. Und auch er symbolisiert die Auflösung Afghanistans. Schließlich steht hinter dem Gegensatz zwischen Hekmatyar und Masoud der alte Antagonismus zwischen Paschtunen und Tadschiken.

Das Problem Afghanistans besteht heute in der Gefahr seines Zerfalls in lauter kleine, bewaffnete Einheiten, die sich je nach konkreter Interessenlage miteinander verbünden oder bekämpfen würden. Ein Konflikte regulierender Staatsapparat war in Afghanistan immer sehr schwach. Heute besteht die akute Gefahr, daß nach der Niederlage der unerfreulichen Regierung in Kabul tatsächlich noch schlimmere Verhältnisse eintreten könnten. Alles wird davon abhängen, ob der Übergangsrat der nächsten beiden Monate und die dann folgende Übergangsregierung es schaffen werden, einen einigermaßen funktionierenden Zentralstaat zusammenzubringen. Aber Pessimismus ist angebracht: Es sitzen genug Leute in diesen Gremien, die sich in der Vergangenheit schon mehr als einmal gegenseitig umbringen wollten. Und bereits am Tag nach dem Einmarsch der Mudschaheddin in Kabul hat es dort die ersten Plünderungen und schweren Gefechte gegeben. Wenn die verfeindeten Mudschaheddin-Führer nicht über ihre Schatten springen, dann macht sich Kabul auf den Weg nach Beirut. Jochen Hippler

Publizist, arbeitet u.a. am Institut für Internationale Politik (Wuppertal) und bei MERIP — Middle East Report, Washington