Die Schlacht um Kabul hat begonnen

■ Rivalisierende Mudschaheddin kämpfen in der afghanischen Hauptstadt/ Hekmatyar zur Bekämpfung der Übergangsregierung entschlossen/ Butros Ghali fordert Ende des Blutvergießens

Kabul/Berlin (ap/afp/taz) — Dicke Rauchwolken stiegen gestern über dem Südteil Kabuls auf. Einen Tag nach dem Einmarsch der Mudschaheddin in der afghanischen Hauptstadt brachen heftige Kämpfe zwischen rivalisierenden Mudschaheddingruppen aus. Einheiten der „Hesb-i-Islami“ des radikal-islamistischen Mudschaheddinführers Gulbuddin Hekmatyar beschossen von den umliegenden Bergen die Stadt mit Granaten. In Kabul stationierte Kämpfer der „Dschamiat-i- Islami“ des als gemäßigt geltenden Ahmad Schah Masud schossen zurück. Einzelne Stadtteile gelangten offenbar unter Kontrolle der Anhänger Hekmatyars. Kämpfe gab es in der Nähe des Präsidentenpalastes und vor der Parteizentrale der bisher regierenden „Vaterlandspartei“, der ehemaligen Kommunisten. Dabei wurden Panzer, Kampfhubschrauber und Artillerie eingesetzt. Ungewiß war angesichts der Kämpfe die für Sonntag nachmittag geplante Ankunft der 50 Mitglieder des Interimsrates, der am Montag nach 14jährigem Bürgerkrieg die Regierungsgewalt in Kabul übernehmen soll.

Vor dem Außenministerium und anderen wichtigen Gebäuden hatten Hekmatyar-Truppen Stellung bezogen. Über der Stadt flogen Hubschrauber von Masuds Gruppe. Sie versorgten offenbar die Kämpfer mit Nachschub. Der Kabuler Flughafen stand unter Kontrolle der Masud- Einheiten. Die mit Masud verbündeten ehemaligen Regierungstruppen zogen aus den von ihnen kontrollierten nördlichen Städten 1.200 Mann Verstärkung zusammen. Die vom Iran unterstützte schiitische Mudschaheddingruppe „Hesb-i-Wahdat“ schickte ebenfalls Verstärkung für Masud.

Ein Machtkampf zwischen den beiden mächtigsten Guerillaführern, war seit Tagen befürchtet worden. Hekmatyar hatte am Samstag seine Beteiligung an dem von der Mehrheit der Mudschaheddinführer vereinbarten Übergangsrat abgelehnt, der die geordnete Übergabe der Regierungsmacht an eine neuzubildenden islamische Regierung gewährleisten sollte. Nach dem am Freitag beschlossenen Plan soll der Interimsrat unter Führung des Geistlichen Sibghatullah Mudschadidi zwei Monate lang in Afghanistan das Sagen haben, bis dann ein sogenannter Oberster Rat als islamisch ausgerichtete Übergangsregierung eingesetzt wird. Dieser Rat, der sich aus Stammesältesten zusammensetzen wird, soll von dem Theologieprofessor Burhanuddin Rabbani geleitet werden und Parlamentswahlen in einem Jahr vorbereiten. Der Ratsvorsitzende Rabbani gehört der Gruppe „Dschamiat- i-Islami“ von Masud an.

Hekmatyar hatte zunächst seine grundsätzliche Zustimmung signalisiert, aber gefordert, daß der Oberste Rat sofort die Macht übernehmen solle. Am Sonntag drohte er damit, das Flugzeug abzuschießen, das Mitglieder des 50köpfigen Interimsrates von Pakistan nach Kabul bringen sollte. Der Abflug in Peschawar, der für Sonntag nachmittag auf dem Programm stand, war deshalb zweifelhaft. Mudschahidi zeigte sich jedoch entschlossen, trotz der Drohungen zu fliegen. Der Paschtune war früher Imam der Moschee von Kopenhagen, dann Chef der von Mudschaheddin in Peschawar gegründeten afghanischen Gegenregierung. Seine Organisation, die Nationale Befreiungsfront („Dschabha Nidschat-i- Milli“) ist die einzige offiziell royalistische Gruppe unter den Mudschaheddin. Im Machtkampf zwischen Hekmatyar und Masud steht sie an der Front auf Seiten Masuds. Modschahidis Sohn, Nadschibullah Modschahidi sitzt in dem nach dem Sturz eingerichteten sechsköpfigen „Sicherheitsrates“ in Kabul.

Einheiten verschiedener Mudschaheddingruppen waren am Samstag kampflos in Kabul eingerückt. Soldaten der regulären Streitkräfte setzten ihnen so gut wie keinen Widerstand entgegen. Die Mudschaheddin übrnahmen Militärposten und Polizeiwachen.

Alle Mudschaheddinführer mit Ausnahme Hekmatyars unterstützen dabei Masud, dessen Einheiten die wichtigsten Stellungen in Kabul besetzt hielten. In einer am Samstag in der pakistanischen Grenzstadt Peschawar vereinbarten Erklärung hieß es, Masud kontrolliere Kabul, alle Befehlshaber und Kämpfer stünden unter seinem Kommando.

UN-Generalsekretär Butros Ghali, dessen Friedensplan für Afghanistan durch den Sturz Nadschibullahs obsolet geworden ist, appellierte in Islamabad, Blutvergießen zu vermeiden. Den Nachbarn des Landes, Iran und Pakistan, komme eine wichtige Rolle bei den Bemühungen um eine friedliche Lösung zu. „Die Zeit ist gekommen für Toleranz und Versöhnlichkeit“, sagte Ghali, bevor er nach Teheran weiterrreiste. Nadschibullah hatte kurz vor seinem Sturz dem UN-Friedensplan zugestimmt und seinen Rücktritt angeboten. Dieses Angebot des als „Bullen von Kabul“ berüchtigten Staatschefs war offenbar von weiten Teilen des Militärs als Zeichen der Schwäche interpretiert worden. Sie schlugen sich daraufhin auf die Seite der Mudschaheddin, die vor Einsetzen des UN-Plans vollendete Tatsachen schaffen wollten. Die UNO wurde von den Ereignissen völlig überrumpelt. Ein UN-Mitarbeiter in Pakistan räumte gestern morgen ein: „Uns ist die Situation völlig entglitten.“ taud