Der Lack der letzten Titanen blättert

Italiens Familienunternehmen, einst Symbol ungebrochener Wirtschaftskraft, beginnen zu wanken Die Börsianer spekulieren bereits mit einer Wachablösung/ Gerät auch Fiat in die Krise?  ■ Aus Turin Werner Raith

Der jährliche Jour fixe hat, in Zelebration und Ablauf, etwas von der „Message to the United States“, die der US-Präsident zu Jahresbeginn seinem Volk per Television über den Zustand der Nation unterbreitet. Hier in Turin zelebriert aber nicht ein gewählter Volksherrscher die Ansprache, sondern ein Mann, der so ziemlich alles seinen Ahnen verdankt — und der Tatsache, daß Italien zu Leuten wie ihm noch immer aufsieht wie zu mittelalterlichen Feudalherrschern: Giovanni „Gianni“ Agnelli, Patriarch des gleichnamigen Clans und Haupteigner sowie Aufsichtsratsvorsitzender der „Fabbrica italiana automobili Torino“, verliest seinen Bericht an die Aktionäre. Das alljährlich im Februar stattfindende Spektakel fesselt in- und ausländische Journalisten, aber auch die Nation mehr als jede Botschaft des jeweiligen Regierungs- oder Staatspräsidenten.

Agnelli spricht, und was er sagt, nehmen die Italiener als Prophezeihung. Wie es steht ums Land, wie es werden wird, was vor allem die Regierung, aber auch die kleinen Leute tun müssen, damit es besser wird, welche Fährnisse und Chancen im kommenden Jahr drohen oder winken. „Fiat und Italien“, das erkannte schon vor dem Weltkrieg die 'Times‘, „kann man kaum trennen: Italien ist Fiat“. Der Agnelli-Clan hat die Botschaft schon seit eh und je zum Wahlspruch gemacht: Was Fiat nützt, nützt auch dem Land. Und die Italiener identifizieren sich mit dem, was die Turiner Familie der Auto-, Flugzeug- und Kanonenbauer, Bankeneigner und Versicherungsbesitzer tun und lassen.

Italiener sehen an den Patriarchen hoch

Die einmalige und völlig überholt erscheinende Spitzenstellung eines reinen Familienunternehmens als Wirtschaftsführer und Konjunkturanzeiger ist freilich nur verständlich, wenn man zwei Dinge beachtet: daß die Firma Agnelli weder einmalig im Lande, noch in Wirklichkeit ein echter Familienbetrieb ist. Das Überragende besteht vor allem darin, daß die Agnellis es immer geschafft haben, so zu tun, als verkörperten sie beides.

Tatsächlich ist den Italienern der Familienbetrieb bis heute das vertrauteste Unternehmen schlechthin geblieben — mehr als 60 Prozent aller Stellen im Produktionssektor und nicht-öffentlichen Dienstleistungsbereich werden innerhalb der Verwandtschaft vergeben; in gut zwei Dritteln aller Kleinbetriebe arbeiten mehr als zwei Mitglieder derselben Familie. Wer in einer mittelständischen Firmen arbeitet, hat bestimmt einen oder mehrere Verwandte, die in der Geschäftsleitung sitzen. Und auch in der Industrie sind die familienbestimmten Großunternehmen noch immer vorhanden.

Der Reifenmulti Pirelli, der mit der englischen Dunlop und vielen anderen internationalen Gummiherstellern verflochten ist, wurde bis Februar vom Familienpatriarchen Leopoldo Pirelli höchstpersönlich geleitet. Der Agrarkonzern Ferruzzi, einer der größter der Welt, gehört noch immer der Familie gleichen Namens — den Schwiegersohn Raul Gardini eingeschlossen, der sich auf dem Chemiesektor hervortat.

Auch Neueinsteiger in die Großindustrie und den tertiären Sektor bauen noch heute ihre Holdings als Familienunternehmen auf — die bekanntesten Beispiele sind Carlo De Benedetti und Silvio Berlusconi. Benedetti verschaffte sich mit Hilfe seiner Finanzierungsgesellschaften die Kontrolle über den Computerhersteller Olivetti und regiert mittlerweile gemeinsam mit Bruder und Sohn einen weltweit verzweigten Konzern. Auch der Medienzar Silvio Berlusconi, dem die TV-Stationen, Italia 1, Canale 5 und Retequattro gehören, hat seine in sich verschachtelten Unternehmen vom Bausektor über Lebensmittelketten bis zu Immobiliengeschäften ganz in der Tradition des Familienbetriebs aufgebaut. Kein Aufsichtsratsvorsitzender hat ihm etwas zu sagen, die Verwaltungsräte, wo er sie dulden muß, sind ihm hörig und wo immer es möglich erscheint, hievt er Verwandte ins Geschäft.

Doch all diese Familienimperien arbeiten mit Unmengen Fremdkapital — als Aktiengesellschaften sowieso, vor allem aber mit staatlichen Subventionen. Als in den siebziger Jahren erstmals die große Automobilkrise ausbrach, verabschiedete Italiens Regierung auf Geheiß von Fiat schnell ein spezifisches Gesetz für „Cassa integrazione“ — staatliche Fonds, die arbeitslos gewordene Arbeiter dafür entlohnen, daß sie nicht zu anderen Betrieben wechseln, sondern auf Abruf für ihren bisherigen Arbeitgeber bereitstehen, bis sich die Lage wieder bessert. In diese „Cassa integrazione“ werden schon mal zehntausend Leute auf einen Schlag geschickt, ohne später, wenn es den Betrieben wieder gut geht, auch nur eine Lira der öffentlichen Hand zurückzuerstatten. Daß der Staat sich derlei gefallen läßt, hängt mit eben jener Durchsetzungskraft zusammen, mit der Leute wie Agnelli oder Pirelli dem Volk aufreden, sie seien die eigentlichen „Macher“ Italiens.

Die Familienimperien beginnen zu wanken

Daß dennoch neuerdings der Lack etwas abzublättern scheint, hängt nicht nur mit der Überalterung der Patriarchen zusammen. Gianni Agenlli ist bereits 70 Jahre alt, sein Generalmanager Cesare Romiti nur ein Jahr jünger, Leopoldo Pirelli ebenfalls 67. Offenkundige Mißgriffe in Folge haben mächtig an der einstigen Legende der unfehlbar erfolgreichen Privateigner gezehrt. So mußte als erstes prominentes Opfer Ferruzzi- Schwiegersohn Raul Gardini seinen Posten als Generalmanager abtreten, als sein ehrgeiziges Projekt einer Vereinnahmung der ansehnlichen staatlichen chemischen und petrochemischen Industrie danebenging. Leopoldo Pirelli ramponierte sein Ansehen durchseinen mißglückten Beutezug, mit dem er den deutsche Reifenhersteller Continental schlucken wollte — und wurde aufs Altenteil geschickt. Der ehrgeizige De Benedetti wurde vor einer Woche von einem Mailänder Gericht zu sechs Jahren und vier Monaten Haft verurteilt — der Olivetti-Chef hatte bei den Betrügereien der 1981 zusammengebrochenen Ambrosiana-Bank mitgemischt. De Benedetti, der die erste „feindliche Übernahme“ im Ausland auf die belgische Société Général in den Sand gesetzt hatte, hakelte auch monatelang mit Berlusconi um den Vorrang im Mondadori-Buich- Medientrust — am Ende hatten beide nur Verluste zu beklagen.

Auch Fiat-Magnat Agnelli muß seinen Aktionären mittlerweile sehr gut zureden, damit ihm diese den Angriff auf den französische Mineralwasserabfüller Perrier und die damit verbundenen Fressalientrusts nachsehen. Ein Gericht hatte die Transaktion in letzter Minute gestoppt. Letztendlich bekamen die Turiner zwar ein paar zehntausend Quadratmeter Wohn- und Büroraum im teuersten Viertel von Paris, aber der erhoffte und angesichts der Autokrise dringend notwendige Einstieg ins internationale Feinkostgeschäft ging daneben. Die begehrten Lebensmittelketten angelte sich Mitbewerber Nestlé.

Hinter vorgehaltener Hand spekulieren Italiens Börsianer mittlerweile bereits über eine Wachablösung in Turin, die möglicherweise nicht ohne Hakeleien abgehen wird. Gianni Agnellis Söhne scheinen dem Patriarchen noch zu unreif und unerfahren, obwohl sie teilweise bereits vierzig sind. Dazu steht auch noch der wesentlich jüngere, aber von Gianni immer ins Abseits gedrängte Bruder Umberto im Wege. Mehr als 70.000 Arbeiter müssen auch noch in die „Cassa integrazione“ geschickt werden, und ob sich künftige Regierungen so freundlich verhalten werden wie bisher, ist noch keineswegs ausgemacht.

Aktien verlieren an Wert

Alt-Ministerpräsident Giulio Andreotti setzte der gesamten Familienunternehmerei jedenfalls einen scharfen Schuß vor den Bug. Als die in starker Opposition zur bisherigen Regierung stehenden Unternehmerverbände die öffentliche Administration als Schuldige für das derzeitige Desaster im Wirtschafts- und Dienstleistungsbereich ausmachten und weitere Privatisierungen einforderten, machte Andreotti seine Gegenrechnung auf: Penibel rechnete er den Italienern vor, wieviel ein Aktienkäufer, der sich „vor zehn Jahren der Kapazität unserer Privatunternehmer anvertraut und Aktien von Fiat, Olivetti, Ferruzzi und Pirelli gekauft hatte“, inzwischen an Geld eingebüßt habe — nämlich an die 90 Prozent. „Da wäre ich mit Privatisieren vorsichtig“, schloß Andreotti.

Die Botschaft wurde verstanden: Ärgerlich drohte Agnelli zwar, seinen Generalmanager Romiti zum Vorsitzenden des Industriellenverbandes zu machen und somit jeder künftigen Regierung das Leben höchstpersönlich sauer zu machen. Andreotti zuckte die Schulter und gab erst Entspannungszeichen, als Agnelli die Drohung zurückgenommen hatte. Die absolute Vorrangstellung der Familienpatriarchen, so scheint es, ist jedenfalls vorbei.