Große Erwartungen auf beiden Seiten

■ Gewerkschaften reklamieren Nachholbedarf, Arbeitgeber verweisen auf leere Kassen

Mit Lohn- und Gehaltsforderungen von 9,5 Prozent für die 2,3 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst Westdeutschlands eröffnete die ÖTV die Tarifrunde 1992. Ihre Gewerkschaft sei fest entschlossen, so die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf- Mathies, sich der „konservativen Trendwende in der Tarifpolitik entgegenzustemmen“ und die von der Bonner Regierung errichtete „lohnpolitische Mauer“ zu durchbrechen. Als Begründung für das geschnürte Forderungspaket führte die Arbeitnehmerorganisation in erster Linie den „Nachholbedarf“ der Einkommen im öffentlichen Dienst gegenüber der Privatwirtschaft sowie die ständig „steigenden Belastungen“ der abhängig Beschäftigten durch Steuern, Sozialabgaben, Gebühren und eine immer schneller kletternde Inflationsrate an.

Tatsächlich hängen die Löhne und Gehälter bei Bund, Ländern und Gemeinden weit hinter den von privaten Arbeitgebern bezahlten Einkommen zurück — im Schnitt um 14 Prozent, wie sich die ÖTV auf Berechnungen des Statistischen Bundesamtes beruft. Wer Verantwortung für einen funktionierenden öffentlichen Dienst tragen wolle, so die ÖTV- Chefin, müsse selbst bei der angespannten Haushaltslage qualifizierte Arbeit auch „anständig bezahlten“.

Im vergangenen Jahr hatte die ÖTV 10,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt gefordert; schließlich einigte man sich auf sechs Prozent. Gleichzeitig konnte die Gewerkschaft aber dringend notwendige Strukturverbesserungen für jene Beschäftigtengruppen durchsetzen, die jahrelang unterbewertet wurden. Betroffen waren davon rund 1,3 Millionen Beschäftige — vor allem Frauen, die in Kranken-, Pflege- und Sozialberufen tätig sind. Rund zwei Drittel der Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst gehören den unteren und mittleren Einkommensgruppen an.

Tarifrunde im Osten beginnt Ende April

Daß der öffentliche Sektor sich mit Personalproblemen plagt, wissen auch die Arbeitgeber: Pflegenotstand, fehlendes Krankenhauspersonal, Jobs, etwa bei Straßenreinigung und Müllabfuhr, die niemand machen will. Die Liste der Tätigkeiten, bei denen Einkommen und Arbeitsbedingungen im Vergleich mit Industriearbeitsplätzen nicht mithalten können, läßt sich beliebig fortsetzen: Polizisten, Strafvollzugspersonal, Schreibkräfte, Busfahrer oder Briefträger. Auch der Nachwuchs bleibt angesichts der mangelnden Attraktivität zusehens aus.

Für die Arbeitgeber geht es dagegen um die Frage, was es in diesem Jahr volkswirtschaftlich zu verteilen gibt. Die Tarifgemeinschaft aus Bund, Ländern und Gemeinden haben die Forderungen der ÖTV und der anderen Gewerkschaften mehrfach als „nicht finanzierbar“ zurückgewiesen. Die gewaltigen Finanzprobleme der Republik, so argumentieren sie, ließen keine hohen Tarifabschlüsse zu. Zudem gefährde die überzogene Lohnpolitik Wachstum, Wohlstand und Geldwertstabilität. Allein das ÖTV-Paket, so rechnete die Verhandlungsführerin der Länder, Heide Simonis (SPD) vor, koste den Staat 34 Milliarden D-Mark — das entspricht in etwa den gesamten Steuereinnahmen in diesem Jahr. Jeder Prozentpunkt macht den Berechnungen zufolge rund 3,1 Milliarden D-Mark an Mehrkosten aus.

Weitere zehn Milliarden würde es kosten, wenn die Osttarife auf 70 Prozent des Westgehalts angehoben werden. Die Tarifrunde für den öffentlichen Dienst in Ostdeutschland beginnt Ende April. Traditionsgemäß wird der Tarifabschluß im öffentlichen Dienst wenig verändert auch für die 420.000 Westbeschäftigen der Post, ihre 110.000 KollegInnen der Bundesbahn und in einer weiteren Runde für die Beamten übernommen. Erwin Single