Die Zeit und die Zimmer

Cesare Lievis „Die Sommergeschwister“ an der Berliner Schaubühne vom Autor uraufgeführt  ■ Von Sabine Seifert

Wir reden, wir formulieren Ideen, wir sagen moralische Sätze — aber die wirkliche Verständigung, die läuft doch über etwas ganz anderes, dafür habe ich eigentlich keine Worte! ... Wir machen einen großen Fehler, wenn wir das Unsichtbare vergessen. Die Toten sind für uns eine gute Möglichkeit, eine Beziehung zu dieser Transzendenz herzustellen, und damit auch zur Perfektion. Ich denke, die Toten sind perfekt geworden; der Tod macht uns perfekt.“

Auch Cesare Lievis Figuren in Die Sommergeschwister reden viel, allerdings überwiegend mit sich selbst. Und sie begegnen der Transzendenz. Das Stück endet mit dem Satz: „Vielleicht einfach nur, daß ich da bin.“ Lievi ist angetreten, eine existentielle Erfahrung unter Beweis zu stellen. Er ist ein Überlebender. Im November 1990 starb sein Bruder Daniele, der Bühnenbildner. Gemeinsam hatten die Lievi-Brüder 1979 in Gargnano am Gardasee das Teatro dell'aqua gegründet, später mit ihren hübschen Inszenierungen (etwa Ionescos Der neue Mieter) auch an deutschsprachigen Bühnen Furore gemacht. Nach dem Tod des Bruders entstand Die Sommergeschwister. Aber wie so oft will es nicht gelingen, diese Begegnung mit dem Tod (durch Reden) zu vermitteln.

Die Sommergeschwister liest sich wie ein schlechter Tschechow- Verschnitt: ein Sommer-Provisorium; drei Geschwister im Haus der Eltern; die Ehen gescheitert, die Träume ungelebt oder zerplatzt; es gibt ein Fest, an dessen Rande sich einiges Entlarvendes abspielt, der Regen setzt ein, und die letzte Szene findet auf gepackten Koffern statt. Natürlich ist der See heutzutage eine Kloake, und die Geschwister sind desillusionierte Alt-68er. Paolo, gespielt von Udo Samel, ist nicht nur in die Jahre, sondern auch in die Breite gegangen. Der klassische Versager, ein verhinderter Dichter und verhinderter Liebhaber. Adele (spitz äußert sie sich über „das Vergnügen, eine Grundschullehrerin zu sein“) ist eine ordentliche Person, liest Zeitung, aber wenn sie betrunken ist wie auf dem Fest, kann sie sich gehen lassen und sucht einen neuen Mann. Tina Engel läßt die elegante Dame immer mal wieder lebens- und amüsierwütig ausflippen. Paolo und Adele haben sich arrangiert, nach dem Tod der Eltern und Adeles Trennung von ihrem Mann. Nun ist Silvia wiedergekommen, die zweite Schwester; zehn Jahre hat sie in den USA verbracht. Silvia ist Malerin, und Libgart Schwarz hüpft herum wie ein Vögelchen und redet mit sich selbst wie mit einer Kranken. Ihr Seelenfrieden scheint vorgetäuscht, wie sollte sie da den Seelenzustand der anderen erforschen können? Silvias Einbruch in das Leben der anderen bringt die Situation nicht zum Explodieren, sie implodiert. Nur davon hat der Zuschauer nichts.

Drei Menschen, deren Lebenskräfte gehemmt sind. Auseinandersetzungen umgehen sie, indem zwei sich über den dritten mit knappen Andeutungen austauschen. Ein dialogarmes Verfahren, das einer Dramatisierung eher hinderlich ist. Zur gefälligen Erbauung des Zuschauers wird das Bühnenbild mit seinen variablen Mauern, die immer wieder Ausblicke auf den See oder den Himmel eröffnen, hin und wieder mit einer Licht- und Schattenfolie (als Diaprojektion) überzogen, die den Raum mal in eine Kraterlandschaft, mal in ein wüstes Gemälde nach Art des action painting verwandeln. (Das Publikum zeigte sich kunstinteressiert und applaudierte.) Ansonsten ist das Interieur betongrau, spärlich möbliert und wird kontrastreich ausgeleuchtet. Ein metaphysisches Nichts wie auf de Chiricos Bildern; die Zeit scheint bloß spurlos an diesem Zimmer vorbeigegangen. In einem anderen Raum des Hauses, im sogenannten Froschzimmer unter dem Dach, ist Gras gewachsen.

Die Zeit löscht die Erinnerung aus. Silvia begegnet im Keller des Hauses der alten Kinderfrau Maria, von den Toten wiederauferstanden (wir kommen jetzt zur Transzendenz, siehe obige Interviewpassage). Der Frau (Katharina Tüschen) legt Lievi seine Philosophie unverhüllt in den Mund. An ihren Mann kann sich die Tote ohne Arme („Wenn ein Toter in den Sarg gelegt wird, ist er nicht wirklich tot. ... Der richtige Tod kommt erst später und sehr langsam... Bei meinen Armen hat es zehn Jahre gedauert...) nicht erinnern, nur an ihren Bruder: „Niemand liebt man mehr als die Geschwister“, sagt sie. „Nur natürlich ist das, man ist ja vom gleichen Fleisch! Die anderen, denen wir in der Welt begegnen, die wir umarmen oder heiraten, lieben wir mit einer anderen Liebe, weniger tyrannisch vielleicht, aber auch nicht so dauerhaft.“

Lievi arbeitet thesenhaft, und seine Thesen sind wie kleine philosophische Exkurse unverbunden in die Geschichte eingefügt. Einmal fügt es sich glücklich. Silvia lädt Personen aus der Kindheit zum Tee: zwei Zwillingsbrüder (wunderbar gespielt von Willem Menne und Rainer Philippi), die im Dorf eine Konditorei geführt haben, inzwischen ist sie längst geschlossen. Die „himmlischen Zuckerbäcker“, wie sie früher hießen, sind alt geworden; einer der beiden Brüder ist taub, seither redet er nicht mehr. Wie aus dem Ei gepellt in ihren hellen Sommeranzügen sitzen sie auf dem lachsfarbenen Sofa Adeles, im Knopfloch die zum Sofa farblich korrespondierende Rose. Mit spitzen Fingern führen sie die Teetasse, selbst den obligaten Löffel Zucker teilen sie. Und als der eine Konditor eine Geschichte von früher erzählt, bricht sein tauber Bruder an einer Stelle, wo von ihm die Rede ist, in schallendes Gelächter aus. Einen Moment lang dürfen die Schauspieler miteinander spielen, werden plötzlich komisch, spitz, spielen sich frei — um danach im mühsamen Alltagsgeschäft der Selbstgespräche erneut unterzutauchen. Ein Dauerreden wie der Regen, der am Ende einsetzt.

Cesare Lievi: Die Sommergeschwister. Regie: Cesare Lievi. Bühne: Luigi Perego. Mit Udo Samel, Tina Engel, Libgart Schwarz u.a. Schaubühne Berlin. Nächste Aufführungen: 12. und 13.Mai.

(Cesare Lievi in einem taz-Interview

vom 28.Mai 1991