„Willkommen in der Geschichte!“

1.500 IndianerInnen von Alaska bis Feuerland kamen zu einem Treffen nach Mexiko/ Gleichzeitig demonstrierten 400 mexikanische IndianerInnen durch einen „Marsch der Ameisen“ gegen Unterdrückung und Marginalisierung in ihrer Heimat  ■ Aus Mexiko Anne Hufschmid

Zwischen den wuchtigen Säulen des alten Kolonialbaus im Zentrum von Mexiko-Stadt fand ein wundersames Schauspiel statt: indianische Musik- und Tanzgruppen hatten sich für ein paar Stunden des steinernen Palastes bemächtigt. Auf den Gängen und sonnendurchfluteten Innenhöfen herrschte ein verwirrendes Gemisch von Klängen und Instrumenten, Farben und Rhythmen, Masken, Stoffen und Kostümen.

„Von Alaska bis Feuerland“ seien Gruppen zum ersten Kontinentalen Treffen der Pluralität gekommen, vermeldeten stolz die Veranstalter vom staatlichen Indianerinstitut Mexikos (INI). Zu der Veranstaltung waren zwischen dem 24. und dem 26. April 84 der 400 verschiedenen Volksgruppen des Kontinents, insgesamt über 1.500 indianische Menschen aus Süd-, Mittel- und Nordamerika, nach Mexiko-Stadt gekommen.

Es sollte kein Kongreß werden, kein Festival der öffentlichen Worte, sondern ein kultureller Austausch über den gesamten Kontinent. Das Ergebnis war ein Austausch mit Hindernissen. So erzählte ein mexikanischer Teilnehmer, daß er gerne Kontakt aufgenommen hätte mit seinen „Brüdern“ aus den anderen Ländern, aber dieses aufgrund der vielen verschiedenen Sprachen doch schwierig gewesen sei. Ein anderer beklagte, daß die Teilnehmer wie „eingesperrt“ gehalten worden seien und in den wenigen, mit Tanzveranstaltungen vollgepfropften Tagen keine Zeit gefunden hätten, sich zu verständigen. Viele TeilnehmerInnen bekamen mit, daß „draußen“ ein Protestmarsch mexikanischer IndianerInnen stattfand. Sie wurden neugierig, und einige waren verärgert über die Ignoranz der Veranstalter: „Während die Regierung uns hier in Luxushotels mit Spitzenessen versorgt, kämpfen und leiden die anderen.“

Das INI gilt als fortschrittliches Institut, das den 500-Jahres-Feiern der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus kritisch gegenübersteht. Nach Darstellung des Anthropologen und Institutsmitglieds José del Val und hat es keinerlei Interesse an Kontrolle und Manipulation. „Es wußten alle, wozu sie eingeladen waren: Es ging um Tanz und Musik, um eine Kulturveranstaltung. Und das ist, in einem weiten Sinne, eine höchst politische Angelegenheit.“ Die Idee sei gewesen, einmal nicht die politischen Sprecher der ethnischen Gruppen, die sich oft und an vielen Orten treffen, sondern die „kulturellen Führer“ zusammenzubringen. „Wichtig war uns die authentische Repräsentation, deshalb haben wir weder Folklore-Ballette noch Profi-Gruppen eingeladen, was uns von den jeweiligen Regierungen ziemlich übelgenommen wurde.“

Zur gleichen Zeit fand auf dem riesigen Vorplatz der Basilica-Kirche ein anderer „kultureller Akt“ statt, allerdings weniger bunt und feierlich als im Stadtzentrum. Begrüßt wurde Xi'Nich', der „Marsch der Ameisen“, der sich Anfang März aus dem fernen mexikanischen Bundesstaat Chiapas auf den Weg in die Hauptstadt gemacht hatte, um gegen Unterdrückung und Marginalisierung in seiner Heimat zu protestieren. Vor allem aber ging es um Würde und Sichtbarkeit: In einer der unzähligen Zwischenstationen auf ihrem langen Weg waren sie mit einem Spruchband begrüßt worden — „Willkommen in der Geschichte“.

Nicht Federschmuck, sondern Strohhüte, die die über 400 erschöpften MarschiererInnen vor der Sonne schützten, beherrschten das Bild. Ein Sprecher erklärte: „Auch wenn das INI den indianischen Gästen des Kontinents, die heute hier in der Stadt sind, den Kontakt mit uns behindert hat, wissen wir, daß sie mit uns sind.“ Zum Abschluß ihres „Pilger- und Protestmarsches“ wurde der dunkelhäutigen Jungfrau von Guadeloupe als „Schutzheiligen der armen indianischen Völker“ gedankt und versprochen, daß der Kampf weitergehe. In Hinblick auf ihre konkreten Forderungen erzielten die „Ameisen“ einen ersten Erfolg. Als sie nach 50 Tagen Fußmarsch und über 1.000 zurückgelegten Kilometern kurz vor den Toren der Hauptstadt standen, wurden die offiziellen Stellen plötzlich überraschend verhandlungsbereit. In zwei Verhandlungsmarathons wurde der indianischen Kommission mit einem Schlag die Einlösung des Großteils ihrer Forderungen versprochen. Verhindert werden sollte, darin sind sich Beobachter einig, um jeden Preis die peinliche Störung der pluralen Feierlichkeiten, die von INI organisiert und von der Stadt finanziert worden waren.

Einer der wichtigsten Erfolge der nächtlichen Verhandlungen ist die Aufhebung der Haftbefehle, die bisher wie ein Damoklesschwert über den indianischen Führern schwebten. Außerdem wurde die Freilassung von politischen Gefangenen erreicht, die Überprüfung Hunderter Fälle von „Landraub“ in Form von zweifelhaften Gerichtsprozessen, die Bereitstellung von Ressourcen für dringend benötigte soziale Einrichtungen wie Brunnen, Schulen, Krankenhäuser für die indianischen Dorfgemeinden. Die verlangte Absetzung einer Reihe von korrupten Funktionären allerdings konnte nicht durchgesetzt werden. „Aber all diese kleinen Eroberungen“, betont die mexikanische Soziologin Araceli Burguete Cal y Mayor, „sind wie mit Stecknadeln angepinnt.“

Das Mißtrauen, das den Stolz über die erkämpften Zugeständnisse zu überlagern scheint, hat Geschichte: Vor knapp zehn Jahren gab es schon einmal einen „Marsch für die Würde der indianischen Völker“, mit vergleichbaren Forderungen. Ganze 20 Prozent der ausgehandelten Ergebnisse sind bis heute umgesetzt. Um zu verhindern, daß die Anliegen der indianischen Gemeinden aus Chiapas wieder in der Versenkung verschwinden, wurde diesmal ein Unterstützungskomitee in der Stadt gegründet, das das Vorgehen der staatlichen Stellen, vor allem vor Ort, überprüfen soll.

Araceli ist Gründungsmitglied des „Consejo Mexicano de 500 anos de resistencia india, negra y popular“ (Mexikanischer Rat der 500 Jahre Widerstands der Indianer, Schwarzen und der Völker). Für sie ist das INI eine paternalistische Institution und das von ihr veranstaltete Festival der Pluralität eine „Luxusveranstaltung“, fern von allen politischen Notwendigkeiten und Realitäten. Sie räumt zwar ein, daß es ein Verdienst des Festivals sein kann, daß „die mestizische Gesellschaft vielleicht endlich Kenntnis nimmt von der Existenz der indianischen Völker“, hält es aber im Grunde für eine „Folklorisierung der Kultur“, die außerdem in erster Linie an die Adresse des Auslands gerichtet sei.

Nach möglichen politischen Erklärungen der TeilnehmerInnen befragt, hatte INI-Organisator de Val, einen Tag vor der Abschlußkundgebung, noch gelassen geantwortet: „Natürlich können sie ihre Deklarationen verabschieden. Es gibt da ein paar höhere Etagen, die diesbezüglich zwar etwas besorgt sind, wir sind es nicht.“ In der Abschlußresolution, die ein Großteil der teilnehmenden ethnischen Gruppen unterzeichneten, wird ausdrücklich die Solidarität mit Xi'Nich' bekundet. Die Nationalstaaten werden zu „sozialer und ökonomischer Umgestaltung“ aufgefordert, um die „territorialen Rechte der indianischen Völker zu garantieren“. Entschieden lehnen die unterzeichnenden Festivalgäste schließlich den 12. Oktober als Feiertag der Entdeckung „Amerikas“ ab und schlagen statt dessen vor, den 11. Oktober „als letzten Tag der Freiheit und Würde der Völker“ zu begehen. Seltsam, daß das Dokument am Abend des Abschlußfestes nur auf Umwegen in die Hände der Presse gelangte.