„Drittes Jugoslawien“ gegründet

Serbien und Montenegro proklamieren neuen Staat/ Schon vor der Proklamation umstritten/ Bundesarmee in Bosnien steht jetzt im Ausland/ Neue Verfassung mit zahlreichen Mängeln  ■ Aus Belgrad Roland Hofwiler

Die Feierlichkeiten waren begrenzt. Es gab kein Feuerwerk, und es wurde nicht schulfrei gegeben, als gestern in Belgrad das „Dritte Jugoslawien“ aus der Taufe gehoben wurde. Ein Staat, dessen Ende auch schon bald wieder bevorstehen könnte. Zum einen sind nur zwei der ehemals sechs jugoslawischen Republiken Gründungsmitglied des neuen Bundesstaates, zum anderen ist es mehr als fraglich, ob dieses „dritte Jugoslawien“ — das erste wurde 1918 als Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gegründet, das zweite 1945 als Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien — als Rechtsnachfolger des zusammengebrochenen Vielvölkerstaates international anerkannt werden wird.

Dies ist jedoch nach wie vor das Ziel der Staatsgründer. Kein geringerer als der serbische Rechtsradikale und Cetnik-Führer Vojislav Seselj ließ letzten Freitag in einer Grundsatzrede, die er bezeichnenderweise im Namen der regierenden Sozialistischen Partei Slobodan Milosevic im Belgrader Parlament hielt, die Katze aus dem Sack: „Es ist Eile geboten, wir Serben müssen die Rechtsnachfolge Jugoslawiens antreten, denn sonst wird uns Europa zerstückeln, Kosovo Albanien einverleiben und die Vojvodina Ungarn zusprechen.“ Seselj, der nie aus seinem Streben nach einem Großserbien ein Hehl machte, erklärte weiter, jetzt komme es erst einmal darauf an, daß das „dritte Jugoslawien“ etabliert wird. Später könne man dann noch immer diesen Staat umbenennen und die „provisorische Verfassung“ umformen. So wie er denken auch die meisten Abgeordneten Serbiens und Montenegros, die im Eilverfahren die neue Staatsverfassung durch die allernotwendigsten Instanzen durchpeitschten, um gestern den neuen Staat proklamieren zu können. Doch die Opposition gegen das „dritte Jugoslawien“ ist nicht zu übersehen: Gäbe es in kürze Wahlen, würden die Völker diesen „sozialistischen Putsch“, so das Wochenblatt 'Monitor‘, „sofort auf die Schutthalde der Geschichte werfen“.

Schon die offizielle Statistik verrät die Probleme des „dritten Jugoslawiens“: Von 9,9 Millionen Einwohnern sind demnach nur 6 Millionen Serben und eine halbe Million Montenegriner. Als rechtlose Minderheit — deren Vertreter nicht einmal im „jugoslawischen“ Parlament vertreten sind — gelten 1,4 Millionen Albaner (im Kosovo), 450.000 Muslimanen (im Sandzak), 400.000 Ungarn (in der Vojvodina) und noch weitere Minderheiten wie Kroaten, Roma, Mazedonier, Bulgaren und Türken.

Diesen Minderheiten werden nach den Kriterien der EG und zahlreicher internationaler Organisationen die elementarsten Menschenrechte verwehrt. Schon aufgrund dieser Tatsache gilt es als äußerst fraglich, ob die internationale Staatengemeinschaft bei den Belgrader Plänen mitspielen wird. Vojislav Seselj gibt sich dabei keinen Illusionen hin: „Europa unter dem Diktat eines Großdeutschlands wird Jugoslawien weiter zerschlagen wollen, aber wir haben Freunde in China und den meisten Staaten der Dritten Welt.“

Wie Belgrads Stellung in der Welt in naher Zukunft sein wird, wird nicht zuletzt von der Politik des Serbenführers Milosevic abhängen, der in wenigen Tagen voraussichtlich vom Parlament als neues jugoslawisches Staatsoberhaupt gekrönt werden wird. Denn mit der Ausrufung eines „dritten Jugoslawiens“ werden gleichzeitig die anderen ehemaligen jugoslawischen Republiken aus „Altjugoslawien“ entlassen, auch Bosnien. Dort leben aber nicht nur 1,5 Millionen Auslandsserben, sondern dort sind auch 60 Prozent der jugoslawischen Armeeverbände stationiert. Verbände, die nun auch aus Belgrader Sicht auf fremden Territorium stehen. Die großen offenen Fragen lauten jetzt: Ruft die Regierung in Belgrad die Streitkräfte zurück? Beansprucht es Teile Bosniens für das neue Jugoslawien für sich? Und wie wird sich der Staatsaufbau im inneren vollziehen?

Die 140 Artikel der neuen Verfassung lassen Dutzende Varianten offen. Selbst die Staatsgrenzen sind danach jederzeit zu verändern. Oppositionelle Politiker wagen deshalb keine Prognosen. Sie verweisen jedoch darauf, daß die neue jugoslawische Verfassung nicht rechtens sei. Denn nach den alten Verfassungen Serbiens und Montenegros konnte eine neue Verfassung nur dann verabschiedet werden, wenn im Parlament in geheimer Wahl nicht die einfache, sondern eine Zweidrittelmehrheit erzielt wurde. In Serbien wurde mit offener Abstimmung entschieden, in Montenegro vor halb besetzem Haus, da die Oppositionsparteien der Abstimmung ferngeblieben waren.

Außerdem gab es keine Volksabstimmung über die neue Verfassung, wie im Gesetz vorgesehen, erst recht keine in der Frage, ob die Bürger Serbiens und Montenegros tatsächlich in einem Staat leben wollten. Zudem werden zahlreiche Entscheidungen dem Gesetzgeber und damit der absoluten Regierungsmehrheit der zu Sozialisten gewandelten Altkommunisten überlassen. So liegt es allein an der Regierung, wie das zukünftige Verfassungsgericht gebildet wird. Auch ist es die Regierung, die zahlreiche Machtbefugnisse des Präsidenten bestimmt, der wiederum nicht vom Volk in direkter Wahl gewählt werden kann. Wird in anderen Paragraphen zwar die Verankerung des demokratischen Parlamentarismus und die Orientierung zur Marktwirtschaft festgeschrieben, so sind diese Punkte ebenso vage formuliert wie in der letzten gesamtjugoslawischen Verfassung von 1974, die noch kommunistisch geprägt war.