Im In- und Ausland galt Genscher als personifizierte Kontinuität

■ Der Mann, der ein Vierteljahrhundert an den Schaltstellen der Macht saß, weiß genau, wie man den Zeitpunkt des politischen Abgangs selbst bestimmt

Ein Phänomen verschwindet. Nicht, weil es enträtselt wurde, sondern weil es die Bühne verläßt, sich seinen Betrachtern entzieht. Mit Hans- Dietrich Genscher tritt nicht ein Minister zurück, sondern droht die wichtigste politische Projektionsfläche der Deutschen von den Bildschirmen zu verschwinden. Der Politliebling der Nation, der Mann, der seit langem die Beliebtheitshitliste anführt, will nicht mehr. Warum? Hätte der Dauerminister der Republik, seit 23 Jahren Mitglied des Kabinetts, darauf eine klare Antwort gegeben, Genscher wäre nicht Genscher. Gründe gibt es genug, und das seit langem, doch der Grund für seinen Rücktritt bleibt unklar.

Der Mann, der eine schwere Tuberkulose wegarbeitete, Hörsturz und Harnblasenoperation in Rekordzeit hinter sich ließ, auch nach dem zweiten Herzinfarkt bereits nach 48 Stunden wieder Akten las, dieser Mann soll nun aus Gesundheitsgründen zurückgetreten sein? Genscher zählt zu den Junkies, deren Droge Macht heißt. Sein Suchtverhalten ist so ausgeprägt, daß selbst seine servilsten Bewunderer darüber lästerten, wie ihr Star noch die Wahl des letzten Ortvereinsvorsitzenden der Partei selbst kontrollieren wollte. Doch solcherart Kritik konnte Genscher nie ankratzen. Wer ein Vierteljahrhundert an den Schalthebeln der Macht bleibt und letztlich auch seinen Abgang selbst bestimmt, weiß, wie Macht funktioniert und wie sie gehandhabt wird. Daß er es dennoch geschafft hat, Publikumsliebling und nicht finsterer Intrigant zu sein, macht das Phänomen Genscher aus.

Legionen professioneller politischer Beobachter haben versucht, es zu ergründen, und sind daran gescheitert. Fred David, Korrespondent der Schweizer 'Weltwoche‘, klagte, Beobachter von rechts bis links würden an „ihm irre“, und das liege daran, daß auch Genscher sich selbst nicht erklären kann. „Kein westdeutscher Politiker gibt häufiger Interviews als er, keiner hält soviel Reden, keiner war länger in Spitzenämtern — und dennoch hat keiner so viele widersprüchliche Interpreten wie er.“ Diese Kapitulationserklärung ist aus dem Herbst 1988. Die Welt war noch in Ordnung, und Genschers PR-Leute verkauften ihren Chef schlicht und einfach unter dem Markennamen „Kontinuität“. In der Welt der zwei Blöcke, der ritualisierten Abrüstungsrunden, die Jahrzehnte auf der Stelle traten, in der Zeit, in der bundesdeutsche Außenpolitik noch nicht mehr als reine Außenwirtschaftspolitik mit ein bißchen Gipfelgarnitur war, bestand in diesem Image zumindest ein Teil seines Erfolgs. Wo es anderwärts drunter und drüber ging, strahlte Hans- Dietrich das allzeit Vertraute aus, gab seine Interviews, in denen er seine bekannten Sprechblasen produzierte, die die gewünschte Geborgenheit suggerierten. Nie wurde er ausfällig, immer sprach er vom Guten in der Welt und schaffte so einen Einlulleffekt, der ihn umgab wie ein undurchdringlicher Kokon.

Gesponnen hat diesen Kokon nicht zuletzt das Bonner Pressekorps. Deutsche Presseleute ließen sich bei internationalen Veranstaltungen ausschließlich auf die Interpretation ihres Ministers verpflichten und verkündeten brav jeden „Durchbruch“ auch da, wo andere nichts als Wassertreten sahen. Wie meisterlich Hans-Dietrich Genscher diese Spielart der Macht beherrscht, wurde nach der sogenannten Wende deutlich. Als die FDP auf sein Betreiben im September 1982 die sozialliberale Koalition platzen ließ und der Weltökonom Schmidt plötzlich ohne Mehrheit dastand, avancierte er über Nacht zum Buhmann der Nation. Die Masse übernahm die Verratsthese der SPD, Genscher schien seine Karriere als Brutus beenden zu müssen. Doch der schaffte die Wende in der Wende. Unter anderem dank Strauß wurden er und seine FDP zum Garanten der Kontinuität in der Außenpolitik und verschafften den Deutschen damit das so begehrte Gefühl des geordneten Gangs durch die Geschichte.

Mögliche Kapitulation vor neuen Koordinaten

Wirklich Außenpolitik gemacht hat Genscher eigentlich erst ab 1985. Als erster Vertreter eines einflußreichen westlichen Staates bestand er darauf, daß Gorbatschow mehr ist als nur alter Wein in neuen Schläuchen. Sein Glauben an Gorbatschow brachte ihm erst Prügel in den USA ein, doch aus dem Schimpfwort Genscherismus wurde mit der Zeit ein Markenname. Genscher überzeugte erst Kohl und letztlich auch seine Kollegen in der EG und Nato. Damit schaffte er zwar nicht die Mauer ab, aber immerhin doch ein Gesprächsklima mit der sowjetischen Führung, das letztendlich die Wiedervereinigung in seinem Sinne erheblich erleichterte. Als der gebürtige Hallenser denn endlich auch Außenminister der Deutschen in Sachsen-Anhalt war, hatte er den Zenit seines politischen Lebens erreicht. Möglich, daß Genscher sich seitdem tatsächlich ernsthaft mit dem Gedanken trägt abzutreten, solange er noch als erfolgreicher Politiker gilt.

Tatsächlich mehren sich ja die Stimmen derjenigen, die ihm vorwerfen, die veränderten politischen Koordinaten der Welt- und Europapolitik nicht zu verstehen. Deutsche Außenpolitik ist plötzlich zu gestaltender Politik geworden, und schon zeigt Genscher seine Schwächen. Der Opportunist muß vorangehen und stößt prompt weltweit die Leute vor den Kopf. Die Serben halten ihn für den Architekten des Vierten Reiches, und in der Türkei wird ernsthaft erzählt, Genscher sei der Protektor des kurdischen Guerillachefs Abdullah Öcalan. Die Einlullstrategie funktioniert nicht mehr. Seit der Wiedervereinigung schafft Genscher es nicht, den Verdacht deutschen Hegemoniestrebens im Ausland zu zerstreuen. Statt dessen fabuliert er von Verantwortung aufgrund größeren Gewichts. In einem 'Spiegel‘-Interview führt der ganze Genscher sich in dieser Frage geradezu prototypisch selbst vor: „Herr Genscher, Sie werden nicht müde zu wiederholen, das neue Deutschland solle ein gutes Beispiel geben, größere Verantwortung übernehmen, aber auf keinen Fall mehr Macht anstreben. Was steckt hinter solchen Worthülsen?“ Genscher: „Für mich hat die Politik des guten Beispiels eine historische Dimension. Das ist eine sehr ernste Sache. Wer die deutsche Sprache kennt, weiß, daß es zwischen Macht und Verantwortung einen großen Unterschied gibt. Wir wollen nicht Machtpolitik, wir wollen unserer Verantwortung gegenüber künftigen Generationen gerecht werden...!“

Genscher pur, nur — er bemerkt den Unterschied nicht. Wo seine Zuhörer früher bereits eingenickt waren, warten sie nun immer noch darauf, die Worthülsen erklärt zu bekommen. Jürgen Gottschlich