Die Würde des »Kindermenschen« gilt nur noch wenig

■ Kindheiten in Ost- und Westdeutschland: Heute Teil 1 einer dreiteiligen taz-Serie/ Eine Streitschrift zur Kindheit in der Krise

»... Wenn nicht das Bündel das da jault und greint, die Grube überhäuft den Groll vertreibt, was wir ihm zugerichtet kalt zerrauft, mit unerhörter Schrift die schiere Zeit beschreibt, ist es verraten und verkauft.« Hans Magnus Enzensberger

Oh, es ist lange her, seit Enzensberger diese Zeilen schrieb — ist seitdem nicht alles besser geworden? Sind die Kinder heute etwa nicht in eine nie dagewesene Qualität von Moderne eingebunden, gab man ihnen nicht die kompliziertesten Spielzeuge, plazierte sie nicht vor den buntesten und immer größer werdenden Fernsehern? Ist das neue zugewiesene Spielareal etwa nicht mit »pädagogisch sinnvollem« Spielzeug ausgerüstet? Der Wahnwitz der technologischen Entwicklung und in seinem Gefolge des alltäglichen Konsumterrors beflügelt den Glauben, auch die Geschichte reglementierender, konditionierender und gewalttätiger Kindheit gehöre in ein »historisches Museum«.

Doch die Logik des »Wohlstands« ist seit jeher an kalte Materie und an das kalte Wollen der Macht gebunden, nicht an ein »Sich-wohl-Fühlen« — wer zu sich selbst kommt, wird schwerlich zum Objekt von (derzeit: elitendemokratischer) Herrschaft. Also schart man Dinge um die Kinder, bezeichnet sie als die »Bennetton-Generation«, legt sie vor graugesichtigen Computern und bluttriefenden Videos ab und fragt sich, warum sie derartig desorientiert, »zappelnd« und gewalttätig sind. Hilfsweise versorgt man die Kinder mit Tabletten und sonstigen Drogen, um sie ruhigzustellen.

Allemal aber gibt die wahre Geschichte der Kinder reißerische Stories ab. Die Gewalt, der sie seit Jahrhunderten tatsächlich »kontinuierlich« ausgesetzt sind, avanciert zum diffusen, mit Schlaglichtern illuminierten »öffentlichen Interesse«. Vor einigen Jahren noch gänzlich unbeachtet und lediglich von einigen Kinderschützern ins Augenmerk genommen, sind die Leiden der Kinder plötzlich Thema: Dann, wenn die Mutter dem »Baby den Kopf abschneidet«, wenn der Vater die Tochter »2000mal« vergewaltigt, dann, wenn die Großeltern bereits die zweite Generationenfolge ihrer Familie sexuell mißbrauchen oder »Babyficker« Literaturpreise einheimsen. »Gewalt!!!« geifert die Boulevard- und Regenbogenpresse und zerrt tatsächlich Übelkeit erregende Fälle ans Licht.

Die Blattmacher zelebrieren einerseits in Zeiten des Umbruchs und der zunehmenden staatlichen Gewalt stellvertretend für ihre Leser das Ritual des Kindesopfers, um die gewitternden Einheits-Götter gnädig zu stimmen. Andererseits begreifen sie nicht, daß ihre »Stories« lediglich Beispiele und vor allem nur Beleg für eine Tatsache sind: Die Würde des »Kindermenschen« gilt nach wie vor nur wenig in diesem Lande. Es sind nur wenige, die Kinder nicht zum Objekt ihrer Bedürfnisse und Wunschvorstellungen machen.

Doch das wird vergessen — vielmehr können sich jene Eltern, die ihre Kinder »nicht so brutal« in Zucht nehmen, angesichts der brutalen Headlines in Sicherheit wiegen: Sie schlagen ja »nur ab und zu« oder vielleicht gar nicht, sondern brüllen das Kind nur nieder, drohen ihm, setzen es bloß »einfach unter Druck — den Druck von Blicken und Gesten vielleicht (Stichwort: »psychische Mißhandlung«).

Doch bleibt dies, was es ist: »Schwarze Pädagogik« mit dem Ziel der Anpassung an kollektiv-neurotische Normen. Diese »schwarze« Tradition ist ungebrochen. Das zu leugnen, hilft nur der Blick auf Schlimmeres, auf Brutaleres. Vor allem der Blick auf den deutschen Osten ist hilfreich und entlastend: Wie sehr wurden die Kinder »drüben«, hinter der Mauer drangsaliert!

Richtig, es ist schier unglaublich: »Tagtäglich werden im Sozialismus allseitig und harmonisch entwickelte Persönlichkeiten erzogen und in den Bildungseinrichtungen, in der Arbeit, in der Freizeit, in den Kollektiven, denen jeder einzelne angehört, herangebildet.«

Hohle Phraseologie. Ideologisches Gewäsch. Lüge. Das hat etwas von Produktionsvorgabe, von maschineller Fertigung, von Kälte. Von deutscher Erziehergründlichkeit und Tradition, die zumindest bis in die wilhelminische Ära zurückreicht, die den Untertanen von Kindesbeinen an systematisch zu zücht(ig)en wußte — ist also im Hinblick auf die Wurzeln gemeinsame deutsche Geschichte. Der einzelne gilt nichts. Wehe er entfaltet sich, meldet individuelle Ansprüche an: Jeder »Eigensinn« ist sofort zu brechen. Ein jahrhundertealtes deutsches Postulat. Es stand auch für den Stoff, aus dem der realsozialistische Mensch gemacht werden sollte. Auch hier galt dieses: »Gebt mir die Kinder...«

Formgepreßt machen die Kleinen den besten Eindruck: Als »Junge Pioniere«, als »Thälmann-Pioniere«, als Schüler im »Wehrkundeunterricht«, als junge »Helden« und »Meister« — jedes realsozialistische pädagogische Pamphlet forderte es und jeder Schul-Parteisekretär hatte den Vollzug der Forderungen zu melden: »Überwacht die Kinder, reglementiert sie, weist ihnen den Platz, den ‘gesellschaftlichen Auftrag‚ zu, den wir für sie vorgesehen haben«: »Erziehung ist Teilnahme am Kampf der Werktätigen.«

Dieser jämmerliche Platz wurde zur Heimat. Auf ihm richtete sich das Kind notgedrungen ein, stellte keine »falschen« Fragen an die Lehrer, vermied ebenfalls »falsche«, verräterische Antworten. Wie oft versagte ihm die Sprache, und das Kind schluckte, schluckte, schluckte all das Leid und die Bitternis hinunter.

Was blieb anderes übrig, als die allseits geforderte Identität anzunehmen? Kollektive gesellschaftliche Gewalt mißbrauchte die Kinder: Jubeln beim Pfingsttreffen der FDJ, Mitmarschieren in den Maikolonnen, das Banner der Arbeit ebenso »küssen« wie die Rute. Schweigen wurde verordnet — »Du sollst nicht merken!«.

All diese Lügen, all diese körperlichen und seelischen Vergewaltigungen sind in den heutigen »Wendekindern« abgelagert und wirksam. Doch überlagert werden sie von deren Bedürfnis nach Idealisierung und Abwehr: »Nicht alles darf in dem Land falsch gewesen sein, in dem ich einst lebte, vor allem dann nicht, wenn ich meinen Platz in der neuen Republik jetzt noch nicht gefunden habe.« Also hat man nach wie vor Sehnsucht nach den »Jungen Pionieren«. Also sieht die Mehrheit (60 Prozent/Shell-Studie 1991) der ostdeutschen Jugendlichen ihre alte DDR positiv: Sie war »Heimat«, bot »soziale Sicherheit« und war »friedfertig«. Gelernt ist gelernt:

»Wichtig für mich ist auch, in eimem sozialistischen Land zu leben, weil ich, wenn ich schon größer und älter wäre und in einem kapitalistischen Land leben würde, vielleicht gar keine Lehr- und Arbeitsstelle finden würde, was ich hier finden kann.« (Dorette Pino, 12 Jahre, DDR 1979) Detlef Berentzen

Die Serie wird morgen fortgesetzt