Nach der Europhorie herrscht Katerstimmung

Ein halbes Jahr nach dem EG-Gipfel von Maastricht treten Drohungen an die Stelle des Optimismus/ AusländerInnenwahlrecht, Asyl und Abtreibung werden zu Stolpersteinen in den nationalen Parlamenten/ Ist die Ratifizierung der Verträge gefährdet?  ■ Von Dorothea Hahn

„Europa oder das nationale Drama“, ruft der Sozialist Mitterrand mit viel Pathos den FranzösInnen zu. „Ja zur EG oder Chaos“, versucht der dänische Konservative Schlüter seine Landsleute zu schrecken. „Wer ,nein‘ sagt, kann alles verlieren“, warnt der deutsche Sozialdemokrat Hänschel seine GenossInnen. Knapp ein halbes Jahr nach dem als historisches Großereignis gefeierten Treffen von Maastricht, bei dem sich die Staats- und Regierungschefs der zwölf EG-Mitgliedsländer auf eine umfassende Wirtschafts- und Währungsunion samt Politischer Union geeinigt haben, sind Drohreden an die Stelle des Optimismus getreten.

Auf dem Gipfel war festgelegt worden, die Verträge bis zum Jahresende unter Dach und Fach zu bringen. Davor müßten sie allerdings in jedem Mitgliedsland ratifiziert werden — doch bislang ist dies noch nirgends geschehen. Im Gegenteil: Je mehr Zeit vergeht, desto größer werden die politischen Hindernisse auf dem Weg in das „Vereinte Europa“.

Vielerorts ist das in den Maastrichter Verträgen vorgesehene kommunale Wahlrecht für AusländerInnen aus EG-Ländern in die Schußlinie geraten. Und wie schon oft in der Geschichte der Gemeinschaft sind auch diesmal innenpolitische Auseinandersetzungen, Wahlkämpfe und die uralte Angst vor Souveränitätsverlusten in den Vordergrund getreten. Die ohnehin auf den kleinsten gemeinsamen Nenner eingedampften „Maastrichter Verträge“ sind oft nur das Reizwort für ganz andere Kontroversen.

Dabei führt die Maastricht-Debatte auf beiden Seiten zu bizarren Allianzen: Bei den GegnerInnen der Verträge machen Feministinnen und erzreaktionäre KatholikInnen, rechtsextreme Parteien in Frankreich, Belgien und der Bundesrepublik und der überwiegende Teil der europäischen Grünen, die Kommunistische Partei Frankreichs und das Management von großen Konzernen wie Peugeot-Citroen gemeinsame Sache. Im Lager der FürsprecherInnen ziehen Konservative und SozialistInnen, linke Grüne und regionalistische Rechtsparteien an einem Strang. In vielen Ländern treiben die Meinungsunterschiede in Sachen Maastricht Keile in die traditionellen politischen Lager und Parteien.

Europa-Debatte um den Bauch der Frauen

Zum Beispiel Irland: Da geht es bei der „Europa-Debatte“ vor allem um den Bauch der Frauen, der seit einem Referendum im Jahr 1983 von einem Verfassungsartikel „geschützt“ wird. Das totale Abtreibungsverbot hatte sich der damalige Premierminister Haughey im Dezember sicherheitshalber auch von seinen EG-KollegInnen bestätigen lassen. Die Verknüpfung von Europa mit der Abtreibungsfrage hat inzwischen Feministinnen wie „LebensschützerInnen“ gegen die Maastrichter Verträge aufgebracht. Der neue Ministerpräsident Reynolds befürchtet, die Affäre „könnte das Referendum komplizieren“.

In Frankreich machen die Maastrichter Verträge eine Änderung der Verfassung nötig, da in dieser weder das kommunale Wahlrecht für AusländerInnen aus EG-Ländern noch die Kompetenzübertragung an eine europäische Zentralbank oder eine gemeinsame Visumpolitik vorgesehen sind. Bis Mitte Juni will Staatspräsident Mitterrand versuchen, die dazu nötige Drei-Fünftel-Mehrheit in Nationalversammlung und Senat zu bekommen. Sollte der parlamentarische Weg scheitern, ist immer noch ein Referendum möglich. Die eigentliche Entscheidung über Maastricht kann erst nach der Verfassungsänderung stattfinden. Dann hat Mitterrand noch einmal die Option, entweder das Parlament oder direkt das Volk zu befragen.

Mitten in den Vorbereitungen für die Parlamentswahlen im nächsten Jahr gibt Maastricht ihm somit einen Joker in die Hand, die beiden in dieser Frage zerstrittenen konservativen Oppositionsparteien zu spalten. Allerdings ist auch die schwer angeschlagene Sozialistische Partei uneinig. So plädieren sowohl der ehemalige Verteidigungsminister Chevènement als auch der frühere Premierminister Rocard gemeinsam mit Grünen und KommunistInnen dafür, die Verträge erst einmal „nachzubessern“, während Staatspräsident Mitterrand bereits erklärt hat, der Vertrag sei „von seiner Natur her nicht neu verhandelbar“.

Wie in zahlreichen anderen Ländern wird in der BRD das Thema Maastricht eng mit der Asyldebatte verknüpft. Auch wenn die Verträge dies nicht nötig machen, versuchen PolitikerInnen in beinahe allen Parteien mit dem Hinweis auf „Europa“ eine Grundgesetzänderung durchzusetzen.

Widerstand gegen die Maastrichter Verträge kommt auch von Landespolitikern, die um ihre politischen Mitspracherechte fürchten. Nach dem entsprechenden Votum auch der oppositionellen SPD scheint das Ja des Bundestags zu Maastricht jedoch festzustehen.

Kaum ein Thema sind die Verträge kurioserweise in Großbritannien, wo die EG zu anderen Zeiten größte Ängste auslöste. Tory-Premierminister Major ist zufrieden mit seinem Verhandlungsergebnis von Maastricht, wonach Großbritannien sich an der gemeinsamen Sozialpolitik nicht beteiligt und auch bei der Wirtschafts- und Währungsunion noch ein paar Jahre Bedenkzeit hat. Ebenfalls wenig diskutiert werden die Verträge in Italien, wo nicht nur die Regierung darauf hofft, daß die EG dem Land seine Schuldenlast erleichtern wird. Auch die Beneluxstaaten streben eine schnelle Ratifizierung der Verträge an. Weitgehende Europhorie bestimmt das Bild in den ärmeren europäischen Ländern wie Griechenland und Portugal, die großzügig mit Geldern aus den Regionalfonds der Gemeinschaft bedient werden.

Derweil droht in Spanien die sozialistische Regierung aus taktischen Gründen damit, die Ratifizierung zu verzögern: Auf diese Weise sollen die Regierungen der reichen Mitgliedsstaaten unter Druck gesetzt werden, um der Forderung der armen Länder nach Aufstockung der Ausgleichsfonds nachzukommen. Ungeklärt ist auch noch, ob wegen des AusländerInnenwahlrechts eine Verfassungsänderung nötig ist. Daran, daß die Maastrichter Verträge vom Parlament in Madrid letztendlich bestätigt werden, gibt es jedoch kaum Zweifel.

Den Anfang bei der Entscheidungsrunde zu Maastricht wird am 2.Juni Dänemark mit einem Referendum machen. In dem kleinen Mitgliedsland mit der vergleichsweise florierenden Wirtschaft haben sich alle großen Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände für ein Ja ausgesprochen. Dennoch ist der Ausgang völlig offen. Vier Wochen vor dem Termin sind Umfragen zufolge knapp ein Drittel der DänInnen unentschieden, bei den übrigen halten sich Maastricht-GegnerInnen und -BefürworterInnen in etwa die Waage. Vorerst läßt Regierungschef Schlüter dicke Kompendien mit dem Vertragstext verteilen. Damit mag er vielleicht die DänInnen zu EG-ExpertInnen machen; aber an der weitverbreiteten Angst vor einem immer stärkeren Deutschland in einem erdrückenden Europa wird er mit dieser Kampagne kaum etwas ändern.