In Übung des aufrechten Gangs

Pina Bausch zeigt zwei Neueinstudierungen: „Victor“ und „Two Cigarettes in the Dark“  ■ Von Alexander Gorkow

Keine Nervosität, eine Wimmelei. Sie sind nicht nervös, sondern aufgeregt. Wie das eben so ist, wenn man eine alte Freundin längere Zeit nicht gesehen hat. Man ist nicht „im Theater“, man ist „bei Pina“.

Auch kurz vor der Wiederaufnahme von Victor gehen die Menschen nicht oder schweben in einer premierenüblichen Duftwolke aus prätentiösem Desinteresse umher — sie wimmeln. Gesichter, die man immer wieder sieht: der Chemie-Professor mit der Ledertasche, das Mädchen, das ergriffen die Programmheftsammlung beguckt und den Betrieb am Stand blockiert. Oder der Theaterkritiker aus Düsseldorf, der sich einst vornahm, „nie ein Wort über Pina zu schreiben“ und es dann doch tat. Sie sind alle wieder da, und sie alle werden am Ende von Victor aufstehen und lange applaudieren. Einzelgänger, geborgen im Schlußjubel. Träumer, geborgen in einem Vier-Stunden-Traum. Kritiker, geborgen in einem Spektakel für die Sinne. Kinder sind das, lediglich adults in law. In der Pause laufen sie sich wacklig entgegen und seufzen: „Ist das nicht wunderbar?!“ Die wenigen Abonnenten, die an diesem Abend zum Besuch im Schauspielhaus verdonnert sind, stehen da schon an der Garderobe und verstehen die Welt nicht mehr.

Zwischen Abhauen und Verweilen

Die Welt dreht Pina Bausch um. Auch und vor allem in Victor, diesem 1986 uraufgeführten Stück, das das große Ensemble einst in Rom erprobte und nun zum zweiten Mal nach 1987 in einer Neueinstudierung mit einer Reihe von Umbesetzungen wieder in den Spielplan nahm. Irgendwann im ersten Teil spricht Urs Kaufmann aus dem Off: „Ich heiße Victor, ich bin wieder da. Kann ich hierbleiben? Ich bin ganz ruhig und mach auch die Tür zu, wenn es zieht.“ Das reicht für den Titel. Sicher — Victor heißt auch Sieg. Aber ein Teufel, wer sich zwangsläufig einen Sinn dabei erdenkt. Im Programmheft steht ein Zitat von Ingeborg Bachmann: „Ich hörte, daß es in der Welt mehr Zeit als Verstand gibt, aber daß uns die Augen zum Sehen gegeben sind.“

Die umgedrehte Welt der Pina Bausch ist an diesem Abend ein gigantisches Grab. Die drei Seiten hat der Bühnenbildner Peter Pabst mit Wänden aus Lehm begrenzt, immer wieder schaufelt Felix Ruckert, ein Ensembleneuling, aus rund fünf Meter Höhe Erde hinab. Unten taumelt das Leben, links steht eine Leiter und rechts ein altes Klavier. Die Leiter verleitet zum Abhauen, das Klavier zum Verweilen. Und zwischen Abhauen und Verweilen sausen die Menschen umher, in unzähligen Szenen, verzweifelt und hoffnungsfroh. Ein dramatisches Personal in energischer Übung des aufrechten Gangs. Im schönsten Augenblick tanzt das ganze Ensemble in fließender Eleganz zu der knisternden Schellack- Nostalgie vonPutting on the Ritz — ein Moment der Harmonie in einem strapazierenden Bilderspiel.

Die große, blonde Julie Shanahan — ein weniger weicher, jedoch blendend dominanter Ersatz für Anne Martin — kommt zu Beginn mit vorgeblich amputierten Armen in knalligem Stewardessengang und rotem Kleid wie ein „Ajax“-Strahl zur Rampe geschossen. Lange, lange lächelt sie zum bombastischen Orchesterwalzer aufdringlich ins Publikum. Der Defekt ist fatal, aber in der Überzeichnung kaum bemitleidenswert. Die Frau erscheint als Schock- Puppe für unsere übermüdete Wahrnehmung. Solange die Augen zum Sehen gegeben sind: Guten Abend!

Bei aller Liebe zur grotesken Komik — zum Loriot im Beziehungsdialog und zum Chaplin in der verzweifelten Hatz —, dieses langsam zubröckelnde Grab ist eine immerwährende Drohung, bleibt gegen Ende der Wunsch zur Flucht in den Himmel: Die Tänzerinnen schwingen sich an den Turnringen in langen Bahnen meterhoch hinauf und fast bis ins Publikum — letztlich aber eben doch nicht aus dieser Erdhöhle hinaus.

Langstreckenfloskeln

Diese Obsessionen. Dieser Automatismus, in den die Menschen in diesem musikalischsten aller Bausch- Stücke rasen. Zu Dvorak, zu Chatschaturjan, zu orientalischen Marktgesängen oder lateinamerikanischen Volksliedern. Oder auch zum dampfenden New-Orleans-Jazz im dunkeln, wenn die Paare hingebungsvoll denSex&Crime tanzen. Später radaut das ganze Ensemble mit Stühlen und Tischen quer durcheinander — in panischer Angst, den Boden zu berühren. Der aufgebahrte Mann allein im fahlen Licht des Grabes ruft dem Davoneilenden abwechselnd „Ich will Kaffee!“ und dann „Nein, doch nicht!“ nach, die Japanerin Mariko Aoyama verzweifelte eben noch an einer ihrer vielen Langstreckenfloskeln: Rund zwanzig Mal hintereinander hat sie das Publikum begrüßt, ihre Tasche umklammert und war bis ans Ende des Zuschauerraums und wieder zurück gerast.

Victor ist ein Sucht-Stück. Fortwährend wiederholen sich die Motive, werden leicht variiert oder in einem anderen Zusammenhang wieder zitiert: die Sucht nach Liebe, Anerkennung, oder die Sucht nach Sex, die der famose Neuzugang Aida Vaimieri als verletzte Lolita mit Locken und ganz in Hellblau auf sich zieht und mit schallenden Ohrfeigen bestraft, die Sucht nach Leben in der Angst vor dem Tod, die Sucht nach dem Rausch und der Betäubung. Kaum eine Szene ohne Zigarette. Herren in eleganten Anzügen, blumig gekleidete Damen, alle haben ständig den Docht im Mund, die Lunte, die ihnen zum Hals raushängt. Auch die drei Serviererinnen Finola Cronin, Anne Marie Benati und Quincella Swyningan reichen in klapprig-angeödeter Gestik die Zigarette im Kreis herum, bevor der verärgerte Gast nach einem Blick auf das Essen fragt: „Was ist das denn?“ und die Cronin lustlos schnarrt: „54!“ So komisch kann Victor sein und oft auch warmherzig. Viele Stücke von Pina Bausch schlagen auf den Magen,Victor geht zu Herzen.

Ein fieses Bild

Eine Woche später verwandelt sich die Bühne des Wuppertaler Schauspielhauses anläßlich der zweiten Neueinstudierung des Ensembles in ein Aquarium. Ein fieses Bild, das Pabst hier entworfen hat, untypisch für die sonst so weiten Landschaften aus Erde, Wiese oder Wasser, die in grotesker Korrektheit zwischen den Betonwänden der Bühne eine Fläche aus Natur ausrollen.

Das Stück aber heißt Two Cigarettes in the Dark (1985), obwohl das Aquarium immer mehr zum grellen Wartezimmer wird. In den weißen Wänden befinden sich Scheiben, dahinter tummeln sich links Goldfische, in der Mitte glänzt ein Pflanzengarten wie aus Gummi, und rechts sehen einige hohe Kakteen aus, ob ob sie schliefen.

Mit dieser Natur können die Menschen nichts mehr anfangen — die läßt sie kalt oder bringt ihnen den Tod. Und so ist Two Cigarettes in the Dark merkwürdig reduziert, mit nur elf Tänzerinnen und Tänzern. Auch hier ist konzeptionell alles — bis auf Detailveränderungen — beim alten geblieben, doch ist das Ensemble nur nur noch zur Hälfte mit dem der Uraufführung identisch. Musikalisch meist streng zwischen Brahms und Beethoven angesiedelt, ist die Gestik des Stücks mal ein Todeskampf, mal ein Kasperletheater. Als der großäugige Dominique Mercy in Unterhose und Tauchflossen zu den Fischen ins Aquarium steigt, kommt er nach kurzer Zeit schon wieder heraus — naß und unbeeindruckt. Ein Autist.

Als sich das Paar in dem Pfanzengarten hinter der Scheibe liebt, erscheint die starke Mechthild Grossmann und erschießt als Racheengel die Liebenden in der Botanik. Im Guckkasten ein Stummfilmkino. Tänzer der Klamotte.

Die Farbenpracht von Victor ist nur noch eine Erinnerung. Heute abend gibt es keine Farben und keine Pracht, der heutige Abend ist weiß. Zu Beginn kommt die Grossmann als herbe Diva im Paillettenkleid mit kessem Hüftschwung zur Bühne gelaufen und benimmt sich so ganz anders als die Shanahan eine Woche zuvor. Ganz höflich sagt die dunkle Stimme: „Kommen Sie ruhig rein. Mein Mann ist im Krieg!“

Was von diesem Abend übrigbleibt, sind nicht die Ängste von Victor, sondern ist ein Vakuum der Einsamkeit. Dabei haben wir doch so viel gelacht. Wenn Dominique Mercy aus dem Botanischen Garten heraus herzhaft jodelnd den Alpenkitsch zelebriert oder Urs Kaufmann und Francis Viet als Neo-Yuppies einen Ausschnitt aus einer kalten Stehparty zeigen. Die Langeweile und Substanzlosigkeit stilisieren die beiden in einem köstlichen Auftritt zur Kunst: Nach jedem Schluck legt Kaufmann den Kopf zurück und spielt Springbrunnen, während Viet in restloser Lässigkeit den Sekt wieder aus dem Mund laufen läßt.

Womöglich löst eben das fast gnadenlose Persiflage-Prinzip an diesem Abend die spürbare Irritation im Publikum aus. In Victor schwangen sich die Tänzerinnen in einem gewaltigen und bewegenden Bild an den Turnringen zum Traum vom Fliegen hinauf. In Two Cigarettes in the Dark wirft Urs Kaufmann ein Ei mit Papierflügeln in die Luft und schaut zu, wie es auf dem Boden zerplatzt.

Doch leuchtet neben der Persiflage nach wie vor die Ernsthaftigkeit vor. In dieser Aquariumswelt aus falscher Schönheit und schöner Falschheit kämpft die hagere Pikon ganz alleine um Luft. Ihr einsames Scheitern geht nicht zu Herzen (dort tanzt noch Victor), sondern in den Magen.

Kurz bevor auch dieser Abend zu dem sehnsüchtigen Jazz von Alberta Hunters Two Cigarettes in the Dark dem Sturm des Applauses anheimfällt, erzählt Mechthild Grossmann noch eine kleine Liebesgeschichte, die dieses Theater der Obsessionen erklären hilft und ganz nebenbei auch ein wenig dieses Publikum ertappt: „Töte mich!“ sagte sie, und er tötete sie. Und als sie endlich tot war, sagte sie noch: „Mach weiter!“

Das Wuppertaler Tanztheater begibt sich nun auf Tournee, die besprochenen Aufführungen sind, wenn, dann erst wieder ab Herbst, in Wuppertal zu sehen. Die Tour- Termine für Reisefreunde: Victor am 6., 7., 9., 10. und 12.Mai in Venedig, 1980 vom 22. bis 24.Mai in der Münchner Staatsoper, Iphigenie auf Tauris vom 5. bis 7.Juni in Turin und vom 12. bis 14.Juni in Rom, TanzabendII vom 23.Juni bis zum 4.Juli in Paris.