DEBATTE
: Außenpolitik nach Genscher

■ Es ist nicht die Zeit der großen Konzepte

I.

Genschers Amtsabschied ist eine geniale Mischung aus Elder-Stateman-Plan und Lausbubenstreich. Zwischen Ankündigung und dem eigentlichen großen Zapfenstreich hat er einen Washington-Besuch geplant: Der große Abschied von dort, wo ihm in den letzten Jahren am meisten mißtraut worden war.

Ohne Genscher hätte es im Herbst 1982 die von Helmut Kohl angekündigte und von der CSU angestrebte Wende in der Ost- und Entspannungspolitik gegeben. Diese Wende konnte nicht stattfinden. Und das ist Genschers Verdienst. Das war gut für uns Deutsche, gut für Europa und gewiß auch gut für die Entwicklung Osteuropas — auch wenn heute manche Patenthistoriker meinen, die äußere Entspannungspolitik habe den demokratischen Bewegungen in Mittel- und Osteuropa eher geschadet. Genscher war ein Garant, daß Außenpolitik als Politik der guten Nachbarschaft auch von der Regierung Kohl weiterbetrieben wurde.

II.

Nach 1989 ist in Mitteleuropa ein neues Stützgerüst aus Nachbarschaftsverträgen gezimmert worden: Verträge mit Polen, Verträge mit Ungarn, Verträge mit Rumänien und mit der CSFR, für die der Name Genscher steht. Er hat den Teil des Hauses, das er jetzt verläßt, in Ordnung gebracht. Das ist nicht wenig. Aber in Wahrheit atmen diese Verträge noch den Geist von gestern, als das zweigeteilte Weltgebäude noch fest gemauert in der Erden stand. Vertragswerke mit Nationalstaaten, die in übernationale Bindungen geholt werden sollten. Wo sich extrem arme Staaten der ehemaligen UdSSR heute mehr um den Aufbau eigener Armeen kümmern als um den ihrer Wirtschaft. Wo Millionen Menschen neue Angst vor ihren Nachbarn im Nebenhaus haben, weil jetzt erst wichtig wird, daß sie verschiedenen Religionen angehören und verschiedene Sprachen sprechen. Wo sich christliche Armenier und islamische Aserbaidschaner mit mörderischer Vertreibungsgewalt begegnen — da zeigt die radikal veränderte „Außenpolitik“ ihr neues Gesicht. Genscher ist in Ost- und Südosteuropa in den vergangenen Monaten durch eine Staatenwelt gereist, die zum Teil Vision, zum Teil Fiktion ist — aber noch keine wirklich handlungsfähige Realität. Das ist das Dilemma der Außenpolitik nach dem Zusammenfall des zweigeteilten Gebäudes.

Das hat Auswirkungen auf den schon (oder noch) intakten Teil der Staatenwelt. Genscher war nach 1989 auch gegenüber Westeuropa der Vertreter der Generation Willy Brandts, Helmut Schmidts. Trotz des Streits um die Anerkennung Kroatiens in Paris und London — der deutsche Außenminister wurde mit der alten BRD identifiziert, nicht mit dem Drohgebilde der nun „übermächtigen achtzig Millionen Deutschen“.

III.

Mit Genscher konnten wir gemeinsam als Lehre aus den zwei Weltkriegen den Zentralgedanken dessen definieren, was das deutsche Nationalinteresse in Europa ist: „Uns Deutschen geht es dann gut, wenn niemand in Europa Angst vor uns hat. Uns Deutschen geht es dann schlecht, wenn Menschen (oder Staaten) außerhalb unseres Landes Angst vor uns haben.“ Ob der Bundeskanzler mit einer starken neuen Rechten im Land und einer eher schwachen neuen Außenministerin den Grundkonsens deutscher friedlicher Nachbarschaftspolitik einhalten kann, ist fraglich. Denn jetzt wird die neue Rechte versuchen, über die CSU stärkeren Druck auf die Außenpolitik zu machen.

IV.

Wir Deutschen (besonders wir deutschen Sozialdemokraten) glauben immer, für unser Handeln bis zu Ende durchdachte Konzepte zu brauchen. Ich glaube, dies ist nicht die Zeit der großen Konzepte, sondern der Moment der Vergewisserung von grundsätzlichen Maßstäben für deutsche (und europäische) Außenpolitik. Mir fallen vier ein:

—Unsere „Westbindung“ ist prinzipiell: soziale Demokratie, liberaler Rechtsstaat und ökologischer Umbau sind nur möglich im Rahmen der pluralistischen Demokratie. Sie hat ihre Wurzeln im Westen.

—Wir müssen Verantwortung übernehmen für den Schutz von Menschen, die von Völkermord oder Vertreibung bedroht sind. Letztlich auch mit militärischen Mitteln. Darum Unterstützung von UNO- Missionen in Bosnien oder in Kambodscha. Aber wahrscheinlich müssen wir rasch an konkreteren Instrumenten arbeiten.

—Wir müssen eine europäische Einwanderungsordnung erarbeiten, weil auf Dauer die Demokratie ungeordnete Einwanderung nicht überlebt.

—Wir müssen Formen der Aufbauhilfe finden, die nicht nur nach den Milliarden fragt. Es hat keinen Sinn, abstrakt auszurechnen, wieviel reiche Gesellschaften an arme überweisen könnten, wenn die Bürger diese Überweisung dann durch Rechtsaußenwahlen blockieren.

In den Nachbarschaftsverträgen mit Polen und der CSFR sind solche Elemente der Hilfe bereits angedeutet. In den Entwürfen für den Minderheitenschutz im Rahmen der KSZE sind diese Maßstäbe bereits „angedacht“. Aber wir sind weit entfernt davon, in der Welt ohne Mauer die Instrumente der neuen Außenpolitik erarbeitet zu haben. Die Konturen sind erkennbar. Hans-Dietrich Genscher hat dazu beigetragen. Freimut Duve

SPD-Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages