Geopferte Kinder werden jugendliche Täter

■ Kindheiten in Ost- und Westdeutschland: Heute Teil 2 einer dreiteiligen taz-Serie. Eine Streitschrift zur Kindheit in der Krise

Die »Wendekinder« haben es schwer, schrieb gestern unser Autor. Die alten sozialistischen Ideale entpuppten sich als Lügen und Phrasen, die neue Gesellschaft ist ihnen fremd. Viele idealisieren die alte Heimat und wehren die neue ab.

Jetzt berichten die Kindernotdienste von immer mehr Kindern, die auf der Straße leben, allein. Die Verzweiflung ihrer Eltern läßt diese Kinder außen vor. Sie »gehen auf Trebe«, bleiben auf der »Vereinigungs-Strecke«. Man kann sie nicht verbal erreichen, so ist von den Helfern zu hören, ihnen fehlen die »Rezeptoren«. Diese Kinder können und wollen nichts mehr hören, sie haben die Ohren gestopft voll mit den alten Parteiphrasen, sie glauben niemandem mehr. Wem auch? Ihren Eltern etwa, die sich beugten und oft zu nichts anderem imstande waren, als ein kompensierendes »Privatissimo« zu schaffen? Immerhin liefen auch die »Alten« am Gängelband der autoritären Überversorgung durch den SED- Staat — Die Erwachsenen waren selbst »Kinder«, die nicht zu Reife und Individualität gelangen sollten. Wie können sie ihren Sprößlingen heute einen akzeptablen Weg weisen, den sie selbst nicht wissen, respektive den die Eltern, wenn sie ihn zu kennen glauben, nur ein weiteres Mal geborgt haben — von den Siegern im Westen der Republik: Anstelle der Lenin-Denkmäler werden solche für »Donald Duck« errichtet. Schafft ein, zwei... 1.000... 16 Millionen Konsumenten... Das ist, wie gesagt, einfacher und erspart den schwierigen und schmerzhaften Prozeß der Reflexion und der selbstbestimmten Veränderung.

Also steht der dreizehnjährige Karl M. aus Berlin-Lichtenberg an der Imbißbude und kann nicht verstehen, warum alles so kommen mußte: Niemand kümmert sich um ihn, die Eltern nicht, die Lehrer auch nicht, die haben ebenfalls mit sich selbst und mit den neuen Lehrplänen zu tun. Die alten »Affenclubs« der FDJ sind dicht (»Gott sei Dank!« denkt er) und Geld, um sich qua Konsum aus dem Elend loszukaufen, hat er auch nicht. Der Karren ist im Dreck. »Rübermachen nach West-Berlin?« Dort ist für »Lücke-Kinder« wie ihn auch nicht viel los. Außerdem erkennt man ihn sofort, und in eine der vielen »familienorientierten« Jugendbanden wird man ihn wohl kaum aufnehmen: »Ausländer sind geil, aber Ostler? ... kannste vergessen...« ist dort oft genug zu hören. Also was machst du, Karl?: »Entweder auf Trebe oder vor den Fernseher. Ansonsten wird's schon werden.« (76% der Ostjugendlichen sehen ihre Zukunft »eher zuversichtlich«; Shell-Studie 91)

Karl M. setzt sich vor den Fernseher. Stundenlang. Bleibt für sich. In der »Glotze« sieht er täglich jene »Brutalos« (98 Prozent der gesamtdeutschen Jugendlichen lehnen zumindest auf Fragebögen Gewalt ab; Shell-Studie 91), die nicht für sich bleiben und die nach Identität in der West-Ost-Geschichte suchen und auch fündig werden: Die stalinistisch-autoritär konditionierten Kotzbrocken aus (oft) Stasi- und NVA-Familien knüpfen im direkten Umkehrschluß im Jahre 1933 an und drehen das von den Jugendbanden gehörte um: »Ostler sind geil... aber Ausländer...« mit dem eminenten Unterschied, daß sie es nicht beim: »Die kannste vergessen« belassen, sondern alles Fremde zum Opfer ihres Haßes machen. Mit dem Beifall und stillschweigender Zustimmung jener Kreise der erwachsenen Bevölkerung, die mit dem psychischen und gefühlsmäßigen Niveau der marodierenden Jugendlichen korrespondieren.

Die heimliche Sympathie der Erwachsenen mit den jugendlichen »Sturmtrupps«

Auch hier wieder das Prinzip der Delegation durch die erwachsene Generation: Ihr habt das sichtbar zu machen, was in uns tobt. Hauptsache, ihr macht uns nicht verantwortlich. Wir sind schließlich auch nur Verführte... Die einst geopferten Kinder konvertieren so zu jugendlichen Tätern. Auch eine Art partieller Generationenvertrag, der Geschichte hat. Schon immer war das »Fremde« als Haßventil im Angebot. Man hat diese Tatsache nur eine Zeitlang aus den Augen verloren und sich in »multikultureller« Sicherheit gewiegt. Nun, wo mit einem großen Deutschland, mit einem zusammengebrochenen Osteuropa jede Menge entlastender Projektionsflächen nicht mehr zur Verfügung stehen, greift man auf Altbewährtes zurück: Man führt beispielsweise eine »Asyldebatte«, kocht sie in den Medien hoch und hat den gewünschten Effekt: Niemand fragt mehr nach den Interdependenzen von Nationalsozialismus und SED-Staat (was ja nun wirklich eng zusammenhängt: Stellen Sie sich vor, Sie hätten nicht die Gnade der westlichen Geburt gehabt!) und damit nach einem gesamtdeutschen Lern- und Veränderungsprozeß, sondern die meisten schauen gebannt auf die neuen jugendlichen »Sturmtruppen«, die gegen die öffentlich diskredetierten Asylantenströme »ins Feld« ziehen. Kaum jemand, der hier wehrhaft demokratisches Bewußtsein zeigte und die »Sturmtruppen« bis auf weiteres aus dem öffentlichen Leben entfernen ließe. Nein, die Republik war auf dem rechten Auge schon immer wesentlich blind — sie sympathisiert. Heimlich. Jeder faschistoide Schläger ist ihr mehr wert, als der in Krisenzeiten so »notwendige« Fremde.

Die wohlstandsbedrohende »Asylantenflut« — ein gigantisches Ablenkungsmanöver sowohl von der Tatsache, daß der Kapitalismus nach der »Wende« erst recht keines seiner alten Wohlfahrtsversprechen einhalten kann, als auch davon, daß epochale und globale Veränderungen ins Haus stehen, die das System und die soziale Kompetenz der Systematisierten überfordern. Die profitable Logik gerät in die größte soziale und ökonomische Krise der Nachkriegszeit. Die ökologische Krise produzierte sie längst.

Immer schon waren Kinder und Jugendliche Seismographen für diese Krisen. Die derzeitige Phase des gesellschaftlichen Umbruchs läßt sie — in West und Ost — zunehmend desorientierter, ängstlicher (wie ihre Eltern) und deshalb »auffälliger« werden. Die Schulen klagen, die Eltern geben auf. Dabei ist diese Krise nicht eine, die allein von den großen politischen Veränderungen verursacht wird. Die sind nur Katalysator für Entwicklungen, die sich bereits seit langer Zeit anbahnen:

Wie steht es zum Beispiel mit der »heiligen Familie«, die Verantwortung für Geborgenheit und Wachstum der Kinder übernehmen soll?... »Alles ist wert, daß es zugrunde geht«, spricht der Philosoph und muß dies auch für die patriarchalisch strukturierte Familie gelten lassen, denn für sie wird der Satz Wirklichkeit: In einer Republik, in der jede dritte Ehe geschieden wird — und allein im Westen zwei Millionen Alleinerziehende leben —, dort kann von »Familienglück« keine Rede sein. Detlef Berentzen

Über Norbert Elias, Metropolenbewohner, und dem armen Projekt Kind die dritte Folge am 3. Mai.