Unendliche Fülle und kleine Details

Ein Nachruf auf Satyajit Ray, den großen Einzelgänger des indischen Films  ■ Von Ulrich Gregor

Der in der letzten Woche verstorbene indische Regisseur Satyajit Ray war nicht nur der wahrscheinlich bedeutendste Filmautor und Regisseur dieses Landes, sondern der wohl einzige Vertreter der indischen Kinematographie, dem schon in den fünfziger Jahren mit der Aufführung seiner ersten Filme auf dem Festival in Venedig der internationale Durchbruch gelang und der seither mit seinen Werken in vielen europäischen Ländern auf Festivals, im Programm der Filmkunsttheater und im Fernsehen mehr oder weniger stets präsent war. In Indien selbst besaß Ray eine Ausnahmeposition, insofern er es sich als einer der ganz wenigen Regisseure erlauben konnte, in seinen Filmen keinerlei Kompromisse einzugehen; so gibt es sehr wenige Gemeinsamkeiten zwischen seinen Filmen und der übrigen riesigen Produktion des Subkontinents (900 Filme jährlich), die vielfach nach den immergleichen Stereotypen angefertigt wird. Dem Druck der Filmindustrie, reine Unterhaltungsprodukte anzufertigen, hat sich Ray immer widersetzen können; er fand stets Alliierte, die ihn in diesem Kampf unterstützten, in früher Zeit der Staat Bengalen, in späterer Zeit westeuropäische Koproduzenten, zwischendurch das indische Fernsehen. Satyajit Ray war stets der große aristokratische Einzelgänger des bengalischen und des indischen Films, der unangefochten seinen eigenen Weg ging.

Man hat manchmal versucht, Satyajit Ray in Gegensatz zu anderen seiner Kollegen des indischen Autorenfilms oder des „anderen Kinos“ zu bringen, deren Werke oft eine dezidierte soziale oder politische Thematik besitzen, während sich Rays Filme meist in einer eigenen Welt mehr individueller Erzählweise und psychologischer Einzelporträts bewegen und vor allem einer ästhetischen und künstlerischen Zielsetzung verpflichtet sind. Aber eine solche Gegenüberstellung oder Abgrenzung hat sich zunehmend als unzulänglich oder sogar als falsch erwiesen. Erstens sind Rays Filme, daran ist kein Zweifel möglich, künstlerisch so stark, daß sie sich im Gegensatz zu vielen anderen Werken über die Zeit erhalten haben; zum anderen aber zeigt eine genauere Betrachtung der Filme Rays, daß sie in ihrer subtilen Darstellungsweise, die nicht sogleich mit sozialkritischem Pathos einherkommt, letztendlich zwischen den Zeilen und oft auch manifest eine unendliche Fülle von Informationen über die Befindlichkeit einer Person in der Gesellschaft, über soziale Spannungen und geschichtliche Zusammenhänge vermitteln; so daß man das Werk Rays auch als Projektion einer ganzen Welt von sozialen Bezügen und Konflikten in den Mikrokosmos einer streng geordneten und komponierten künstlerischen Darstellung begreifen kann.

Bemerkenswert übrigens, daß Rays Filme über einen sehr langen Zeitraum, von den Anfängen in den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart, einen gleichbleibend hohen Standard einzuhalten vermochten, und daß Ray auch in seinem Schaffensprozeß eine Kontinuität wahren konnte (die harten Gesetze der Filmindustrie überall auf der Welt erlauben dies ja nur wenigen Regisseuren). Seine Filmographie umfaßt 35 Titel, es sind zumeist lange Spielfilme, einige Dokumentarfilme, und kürzere Werke sind auch darunter (übrigens gibt es auch mehrere Filme sowie Bücher über Satyajit Ray).

Einen starken Eindruck hinterließ Ray schon mit seinen drei ersten Filmen, der Apu-Trilogie (Pather Panchali, 1955, Aparajito, 1956, Apur Sansa, 1959). In diesen Filmen, die sich einem neorealistischen Stilideal verpflichte fühlten, schilderte Ray die Lebengeschichte eines Jungen aus einem bengalischen Dorf, der zunächst bei seiner Großmutter aufwächst und später in die Stadt Kalkutta kommt. Was diese Filme so faszinierend macht, ist die Entdeckung einer ländlichen (und dann städtischen) Welt, eines Mikrokosmos eigener Art durch die Augen eines Heranwachsenden; die erste Begegnung mit einer Eisenbahn wird beispielsweise für den Protagonisten zu einem großen, umwerfenden Ereignis. Die Apu-Trilogie, die auf einem Romanwerk von Bibhuti Bhushan Bandyopadhyay basierte, zeichnet sich aus durch einen Stil geduldiger Wirklichkeitsbeobachtung und poetischer Verdichtung, durch eine ruhige, abgewogene Erzählweise, durch eine Aufmerksamkeit für kleine psychologische Details, durch die Aufgeschlossenheit gegenüber der inneren ebenso wie der äußeren Welt. Für die europäische Filmkritik, die diese Filme in den fünziger und sechziger Jahren entdeckte, öffneten sie übrigens ebenso den Horizont einer neuen Kinematographie (und damit einer neuen welt) wie die frühen Filme Kurosawas, die etwa um die gleiche Zeit bekannt wurden. Später hat das Werk Rays noch manche andere Akzentsetzungen und thematische Bereicherungen erfahren. In vielen Filmen beschäftigte sich Ray mit Problemen der Großstadt-Zivilisation, mit der Situation von Frauen und mit Aspekten der indischen Geschichte. Sein bevorzugtes Stilmittel ist dabei immer mehr die feine Ironie als das anklagende Pathos gewesen. In Devi (Die Göttin, 1960) ging Ray das Problem des religiösen Mystizismus an: Eine junge Frau wird plötzlich zur Inkarnation einer Göttin erklärt und dadurch zum Opfer eines um sie herum ausbrechenden religiösen Wahnsinns. Kanchenjungha (1962), ein ganz besonders schöner, leider praktisch unbekannter Film Rays, war die Studie einer Familie, die an einem Erholungsort unweit eines Himalaya-Gipfels weilt. In Mahanagar (Die große Stadt, 1963) und Charulata (1965) ging es um die Emanzipation der Frau. Die Abenteuer von Goopy und Bagha (1969) erzählte eine phantastische Legende in Form einer musikalischen Phantasie. Pratidwandi (Der Gegner, 1970) beschrieb die Erlebnisse eines jungen Mannes, der sich um eine Anstellung bewirbt und am Ende Vertreter in der Provinz wird. Mit Absicht machte Ray nicht den Bruder des Helden, einen Revolutionär, zur Hauptfigur, „weil eine Person mit einer klaren politischen Einstellung psychologisch oft weniger interessant ist“.

Für Ferner Donner (1973) erhielt Satyajit Ray seinerzeit den Goldenen Bären der Berliner Filmfestspiele (schon 1961 war er übrigens Mitglied der internationalen Jury der Berlinale). Dieser Film erzählt die Geschichte der Hungersnot in Bengalen 1953 (bei der fünf Millionen Menschen ums Leben kamen), vermittelt durch das Schicksal eines Brahmanen, der in einem Dorf eine Schule gegründet hat, und der die Hungersnot um sich herum als einen Zusammenbruch der moralischen Ordnung erlebt.

In anderen Filmen widmete sich Ray ironischen Menschenporträts, die er mit einer Mischung von Kritik und Zuwendung ausstattete. So berichtet Die Schachspieler (1977) von zwei Adligen aus Lucknow im Jahre 1865, die sich von allen Zeitereignissen zurückziehen, um ausschließlich dem Schachspiel nachzugehen. Und ein großartiges Porträt der zu Ende gehenden Welt des Kolonialismus in Indien lieferte Ray mit Ghare Baire (Das Heim und die Welt, 1984).

In seinen letzten Jahren arbeitete Ray unter den Einschränkungen einer sich abzeichnenden Krankheit. Dennoch gelang ihm mit Agantuk (Der Fremde, 1991) noch einmal ein Werk sehr persönlicher Gestaltung. Hier kommt ein entfernter Verwandter in eine von Habgier zerfressene Familie und hält dieser einen kritischen Spiegel vor. Vielleicht kann man in der Figur dieses Fremden, der unvermutet auftaucht und ebenso rätselhaft wieder verschwindet (er ist Ethnologe und widmet sich dem Studium fremder Völker), ein Selbstporträt Satyajit Rays erkennen. Der Film lief übrigens zur Eröffnung der Retrospektive „Filmland Indien“ im September 1991 in Berlin.

Satyajit Ray war zeitlebens seiner Heimat Bengalen verbunden, die Sprache seiner Filme war Bengali. Er residierte in einer altertümlichen Villa in Kalkutta in einigen hohen Räumen, die angefüllt waren mit Büchern, Manuskripten und Noten (Ray unterhielt Zeit seines Lebens ein enges Verhältnis zur Musik und hat die Musik vieler seiner Filme selbst komponiert). In diesen Räumen war es still und schattig, die Zeit schien in ihnen stehenzubleiben. Ray war eine große, aristokratische Figur, die manchmal weltabgewandt erscheinen mochte. Dennoch hatte er ein starkes Interesse für alle Vorgänge in der Welt und unterließ es nicht, alle in Kalkutta durchreisenden Gäste, von deren Anwesenheit er auf geheimnisvollem Wege stets erfuhr, in sein Haus einzuladen.

Abgesehen vom Film war Ray ein universal gebildeter Mensch (eine Filmausbildung hat er übrigens nie erhalten; nach seinen eigenen Bekundungen „lernte er Film“ durch das Ansehen anderer Filme). Er studierte zunächst Malerei und begann als Illustrator einer Zeitschrift; er ist außerdem ein populärer Schriftsteller, der 26 Bücher in Bengali für junge Erwachsene schrieb; er verfaßte darüber hinaus auch Rätsel für Kinder, entwarf seine eigenen Filmplakate und war auf dem Gebiet der Buch- und Covergestaltung sowie der Typographie tätig; für eine Schweizer Firma entwarf er Schrifttypen, die als „Ray Roman“ und „Ray Bizarre“ bekannt sind.

Die Oscar-Verleihung, die ihm vor kurzem noch zuteil wurde, hat er, wie zu hören war, mit Genugtuung als eine endlich vollzogene Anerkennung seines Werkes auch in einem größeren Kreis empfunden.

Leider sind Satyajit Rays Filme, abgesehen von der jüngst zu Ende gegangenen indischen Filmretrospektive, in Deutschland praktisch verschwunden — bis auf zwei oder drei Titel ist keiner seiner Filme mehr greifbar. Dies ist die Folge mangelnden Interesses der Verleiher, aber auch verworrener Rechtsverhältnisse in Indien. Es ist zu hoffen, daß die Zukunft noch einmal eine Ray- Renaissance bringen möge, denn das Werk dieses großen Filmregisseurs verdient zweifellos eine Wiederentdeckung und Neubewertung.

Ulrich Gregor ist der Leiter des Internationalen Forums des Jungen Films bei der Berlinale und der Freunde der Deutschen Kinemathek