Spiel ohne Grenzen

Die Grenzland-Filmtage in Selb (23. bis 26.April 1992) stecken in Schwierigkeiten. Ein Festivalbericht  ■ Von Roland Rust

Jener Zecher, der dereinst im Wirtshaus „Kaiserhammer“ beim Bier mit einem Bein in Böhmen, mit dem anderen in Sachsen und dem vorgebeugten Haupt in Bayern gesessen haben soll, ist Legende. Die politische Wirklichkeit im gespaltenen Europpa machte aus dem geographisch zentral gelegenen Oberfranken einen toten Winkel im Dreiländereck, eingekeilt zwischen DDR und CSSR. Mit der Randlage, in die man sich mit altfränkischer Beschaulichkeit zu fügen wußte, ist es seit der Wiedervereinigung von Deutschland Ost und West sowie der Öffnung der Grenzen zum tschechischen Nachbarn vorbei. Mit einem Schlag wurde die weltabgeschiedene Provinz zur betriebsamen Baustätte des künftigen europäischen Hauses. Ein „Spiel ohne Grenzen“, in dem die Karten freilich denkbar ungleich verteilt sind. Die Deutschen halten vereint die kapitalen Trümpfe in der Hand und können ihre slawischen Nebenbuhler glatt an die Wand spielen. Die vielbeschworene neue Solidargemeinschaft jedenfalls hält sich nach wie vor in Grenzen. Daran zu rütteln, mühen sich die Grenzland- Filmtage im oberfränkischen Selb bereits seit jenen unseligen Zeiten, da der Eiserne Vorhang unverrückbar schien und eine länderübergreifende mehrsprachige Kulturregion als blanke Utopie galt. Kontinuierlich wurden über ein Jahrzehnt Kontakte zu den mittel- und osteuropäischen Nachbarn gepflegt und deren Kinematographien nicht selten erstmalig erschlossen. Ironie des Schicksals: Ausgerechnet jener politische Umbruch der jüngsten Zeit, an dem man nach Kräften mitwirkte, droht den ohnehin bescheiden budgetierten Filmtagen das Wasser abzugraben. Nach dem Fortfall der Zuwendungen durch das Innerdeutsche Ministerium und der Streichung der Grenzland-Hilfe klafft eine Finanzierungslücke, die auch ein verstärktes Engagement des gleichfalls von Kürzungen betroffenen Zwanzigtausend-Einwohner-Städtchens nicht schließen kann. Da obendrein namhafte Unternehmen wie die ortsansässige Porzellan-Firma „Rosenthal“ ihr Sponsoring einstellten — wohl mit Blick auf die lukrativeren Hofer Filmtage —, mußten Projekte wie die vorgesehene Kooperation mit dem benachbarten Cheb (Eger) in der Schublade bleiben. Zu allem Übel wollte der neue Betreiber der einzigen verfügbaren Abspielstätte das überholungsbedürftige Vier- Schachtel-Kinocenter ein für allemal dicht machen. Ein Ansinnen, das buchstäblich in letzter Minute — zumindest bis auf weiteres — abgewendet werden konnte. Trotz allen Hick- Hacks um eine ungewisse Zukunft, der viertägige Film-Marathon kann mit einem begeisterungsfähigen Stammpublikum aus der gesamten Region rechnen, selbst wenn das Programm einmal (wie in diesem Jahr) an Vielfalt und Stringenz hinter den Erwartungen zurückbleibt. Dem Waliser Karl Francis erwiesen die rührigen Veranstalter mit einer eigenen Werkschau gewiß über Gebühr Referenz. Die Proben aus einem auf über 30 Dokumentar- und Fernseharbeiten angewachsenen Werk, zumeist gutgemeinte Sozialdramen aus dem Milieu südwalisischer Bergleute, waren allenfalls thematisch von Interesse. Völlig daneben ging dem Fünfzigjährigen der späte Kino- Erstling Rebecca's Daughters, ein historischer Abenteuer-Klamauk nach Dylan Thomas, der in diesem Jahr im Panorama der Berlinale zu Recht unterging.

Ein Gegengewicht zu der andauernden Flut apokalyptischer Stimmungsbilder aus dem untergehenden Sowjet-Imperium wollte eine Reihe von „Komödien aus Rußland“ bieten. Die Ausbeute allerdings war dürftig. Die Sozialsatire Das verheißene Paradies von Altmeister Eldar Rjasanow und Das Luftschloß (eigentlichDas Wolkenparadies) von Nikolai Dostal haben sich international längst durchsetzen können. Andererseits geben weder der opulente KompilationsfilmDie Gärten des Skorpions des Moskauer Filmhistorikers Oleg Kowalow (bekannt aus dem Forum der Berlinale) und noch weniger die Negativ-Utopie Kein Zurück, in der Sergej Sneschkin den Putschversuch vom August 1991 auf beklemmende Weise vorwegnimmt, Anlaß zu sonderlicher Erheiterung. Eine glücklichere Hand verriet die Auswahl neuerer slowakischer Filme, die allzu oft hinter den dominierenden Prager Barrandov-Produktionen zurückstehen müssen. Als eines der hoffnungsvollsten Talente des jungen slowakischen Kinos galt Vladimir Balco. Sein jüngster Film Der Flug der Asphalttaube zeigt die fortschreitende Verrohung und Verzweiflung einer aus dem realsozialistischen Gleis geworfenen Generation. Ein bestürzender „Aufklärungsflug über des Fleischmessers Schneide“, wie es im Untertitel heißt. In Balcos früherer Arbeit Blickwinkel machte vor einigen Jahren der junge Martin Sulik als Darsteller auf sich aufmerksam. Suliks Spielfilmdebüt Zärtlichkeit erzählt von einem introvertierten Zwanzigjährigen, dem es sonderbarerweise gelingt, ein enttäuschtes Paar aus seinen schuldvollen Verstrickungen zu erlösen. Ein vieldeutiges Vexierspiel mit einer Fülle von Metaphern und Symbolen, das gleichsam zwischen heiligem Sebastian und ungläubigem Thomas sowohl religiöse wie aktuell-politische Deutungen zuläßt. Tomás Krnáć, der erst vor kurzem ein Studium an der VSMU Bratislava aufnahm, steuerte einen der verblüffendsten Beiträge zum Problemkreis „Der Haß auf das Fremde — Die Rückkehr des Nationalismus“ bei. Ein Thema, das die Filmtage in einem Begleitseminar debattierten. Sein Kurzfilm Das Haus, in dem ich lebe porträtiert einen fanatischen Sonderling, der sich als Schöpfer der neuen Slowakei fühlt, mit abgründigem Galgenhumor, der sich dem Nichteingeweihten wohl nur teilweise mitteilt. Das Haus beherbergt ein schauriges Devotionalienkabinett unbewältigter Geschichte aus Masaryk und Marx, Doppelkreuz und Sowjetstern, Herrgott und gotterbärmlicher Einfalt. Am Ende geht ein Riß durch das morsche Mauerwerk, die slowakische Nationalhymne kommt just an der Stelle „Bleibt stehen, Brüder!“ ins Stocken, um mit den ersten Worten des tschechischen Hymnus „Wo ist mein Zuhause?“ fortzufahren. Eine Frage, die auch der abendfüllende Dokumentarfilm von Eve Stefankovicová aufwirft. Alle miteinander... (auf slowakische Art) kommentiert bereits im Titel aus bitter-ironischer Distanz den Klimasturz von Eurphorie zu Apathie, der auf den Umschwung vom Herbst 1989 folgte. Einerseits fühle man sich nach den anfänglichen Solidarbekundungen vom Dalai Lama bis zu den Rolling Stones — „Die ganze Welt ist mit uns“ lautet eine der schwärmerischen Parolen, die der Film in Zwischentiteln zitiert — auf den immensen Problemen allein sitzengelassen. Andererseits zeigte sich, daß die „sanfte Revolution“ mit den Ex- Machthabern im eigenen Lande allzu gelinde umgesprungen sei. Die „Erinnerung an eine Zukunft“, die schon jetzt lebt. Als kollektives Bewußtsein einer Idee, als Sehnsucht, als Traum- als Grenz-Fall.