Es wird enger auf der Erde

Der Weltbevölkerungsbericht der Vereinten Nationen („United Nations Fund for Population Activities“, UNFPA) rechnet mit einem jährlichen Wachstum der Menschheit um 97 Millionen  ■ VON MICHAEL SONTHEIMER

Noch nie in ihrer Geschichte ist die Menschheit schneller gewachsen, als sie es zur Zeit tut. Dies ist die entscheidende, wenn auch nicht überraschende Aussage des Jahresberichts des UNFPA, der gestern in London von der UNFPA-Direktorin Nafis Sadik vorgestellt wurde und der taz vorliegt. Der 1968 gegründete „United Nations Fund for Population Activities“ (UNFPA) präzisiert dieses Faktum in seinem Report State of the world population 1992 in sehr verläßlichen kurzfristigen Prognosen: Demnach wird die Menschheit Mitte dieses Jahres 5.480.000.000 Köpfe zählen. Die Sechs-Milliarden- Grenze wird 1998 erreicht sein. In den nächsten zehn Jahren wird sich die Besatzung des Raumschiffes Erde um durchschnittlich 97 Millionen jährlich vergrößern.

Von diesem Wachstum ist 95 Prozent in den Ländern der Dritten Welt zu erwarten, wobei die ärmsten Regionen des Trikont den rasantesten Anstieg der Menschenzahl verkraften werden müssen. Während eine Deutsche Anfang der neunziger Jahre statistisch gesehen in ihrem Leben 1,5 Kinder gebiert, sind dies bei einer Frau in Ruanda im Durchschnitt acht. In dem kleinen afrikanischen Land, in dem nur zehn Prozent der Paare Kontrakonzeptiva verwenden, wächst die Bevölkerung jährlich um 3,5 Prozent. Im Jahr 2025 werden in Ruanda statt heute 7,2 Millionen Menschen 18,8 Millionen leben. Die Zahl der Deutschen hingegen nimmt derzeit jährlich um 0,06 Prozent ab.

Drei Prognosen für die Zukunft

Was längerfristige globale Prognosen anbelangt, präsentiert UNFPA drei Varianten: Die mittlere Projektion geht von 8,5 Milliarden Erdenbewohnern im Jahr 2025 und zehn Milliarden im Jahr 2050 aus. Die niedrigste und optimistischste Prognose rechnet mit 8,5 Milliarden Menschen Mitte des nächsten Jahrhunderts und anschließend mit einem Rückgang; der worst case wird mit 12,5 Milliarden im Jahr 2050 und einer weiteren Steigerung bis auf 20,7 Milliarden im Jahre 2150 veranschlagt.

Das Bevölkerungswachstum und die in der Dritten Welt grassierende Landflucht bringen in jedem Fall eine gewaltige Urbanisierung mit sich. So kommen in den neunziger Jahren weltweit jährlich 81 Millionen Städter hinzu — das ist das Äquivalent von insgesamt zehn neuen Städten der Größe von Paris, Moskau, Delhi oder Lagos. Während 1950 nur 29 Prozent der Weltbevölkerung in Städten lebte, sind es heute bereits 45 Prozent.

Die negativen Folgen des Bevölkerungswachstums in der Dritten Welt lassen sich nicht mehr ignorieren. So fiel von 1970 bis 1989 die Getreideproduktion pro Kopf in Lateinamerika um fünf, in Westasien um 18 und in Afrika um 20 Prozent. In 69 von 102 Entwicklungsländern wuchs in den letzten zehn Jahren die Menge der produzierten Nahrungsmittel langsamer als die Bevölkerung.

Die Perspektiven gestalten sich dabei noch wesentlich düsterer als die gegenwärtige Situation. Durch Versalzung, Erosion und Desertifikation haben nach Studien des von UNFPA zitierten Agronomen Harold Dregne bereits mehr als ein Drittel der landwirtschaftlichen Flächen der Dritten Welt zehn Prozent ihres produktiven Potentials eingebüßt. Noch kann dies durch den vermehrten Einsatz von Kunstdünger aufgefangen werden, doch die Einführung der chemischen Landwirtschaft vergiftet zunehmend auch die Gewässer der Entwicklungsländer.

In den Industrienationen kommen derzeit auf einen Bewohner 0,55 Hektar Ackerland, in den Entwicklungsländern sind es nur 0,29 Hektar. Wenn die Bevölkerung weiter so wächst wie in den achtziger Jahren, werden es im Jahre 2050 in der Dritten Welt nur noch 0,11 Hektar sein. Knapper noch als Ackerland ist in verschiedenen Regionen bereits die Ressource Wasser. Von 20 Ländern des Nahen Ostens nutzen bereits elf mehr als die Hälfte ihrer erneuerbaren Vorräte. Gerade in diesen Ländern wächst aufgrund des schwachen Status der Frau in moslemischen Gesellschaften die Bevölkerung weiter. Für ein Land wie Jordanien, in dem heute vier Millionen Menschen leben, es bis 2025 jedoch 9,9 Millionen werden könnten, ist existentieller Wassermangel vorprogrammiert.

Der schwedische Hydrologe Malin Falkenmark stellte fest, daß in Afrika 1982 nur sechs Länder mit 65 Millionen Bewohnern unter Wasserknappheit litten. Bis zum Jahr 2025, warnt Falkenmark, könnte die Zahl auf 21 Länder anwachsen und 1,1 Milliarden, das sind zwei Drittel aller Afrikaner, treffen.

Das Bevölkerungswachstum läßt unberührte Naturgebiete immer weiter schrumpfen. In Madagaskar beispielsweise, das seit 1950 die Hälfte seines Waldes verloren hat, wächst die Bevölkerung jährlich um 3,2 Prozent, der Wald nimmt um drei Prozent ab.

Was das Artensterben betrifft, heißt es hierzu im UNFPA-Bericht: „Es gibt nicht die eine Bedrohung, aber Bevölkerungswachstum spielt bei fast allen eine Rolle.“ Um Platz für Siedlungen und Ackerland zu gewinnen, gingen beispielsweise in diesem Jahrhundert in Asien rund 60 Prozent und in Afrika etwa 30 Prozent der Feuchtgebiete verloren. Nach der mittleren Projektion der UNFPA werden bis 2050 rund 4,5 Millionen Quadratkilometer zusätzlich gebraucht, um die Behausungen von Menschen aufzunehmen und sie mit Lebensmitteln zu versorgen.

Bevölkerungswachstum hat vielfältige ökologische Folgen, auch wenn die Mehrzahl der Ökologen Angst hat, das tabuisierte Thema des Bevölkerungswachstums und der Familienplanung anzusprechen. So wird die Bevölkerungsentwicklung auch auf der gigantischen UN-Umweltkonferenz in Rio nicht thematisiert werden. Statt dessen werden die versammelten Experten dort beständig das neue Zauberwort der Vereinten Nationen als Allheilmittel verkaufen: Sustainability, Nachhaltigkeit.

Auch die UNFPA verlangt in ihrem Bericht „nachhaltige Entwicklung“. Dafür müsse die Armut beseitigt werden, und dies sei, stellt der Bericht zutreffend fest, nur bei einer Verbesserung der Lage der Frauen möglich. Diese wiederum führe zur Senkung der Geburtenrate. Eine Verlangsamung des Bevölkerungswachstums schließlich gäbe den Ländern der Dritten Welt größere Chancen, sich wirtschaftlich zu entwickeln, ohne die natürlichen Grundlagen zu ruinieren. Um dies zu erreichen, müßte zumindest die mittlere Prognose der UNFPA erreicht werden. Doch ohne die Hilfe der reichen Länder bei den Bemühungen des Südens in Sachen Familienplanung gehe dies nicht. Derzeit werden jährlich 4,5 Milliarden Dollar für Familienplanung ausgegeben, im Jahr 2000 müßten es neun Milliarden sein. Obgleich dies nur soviel ist, wie derzeit in vier Tagen global für Rüstung ausgegeben wird, sieht es nicht so aus, als wollten die Industrienationen diese Summe aufbringen.

Viele Details, aber was tun?

Durch den schwammigen Modebegriff sustainable development, den beispielsweise die deutsche Tropenholzlobby so interpretiert, daß man anstelle von niedergeholztem Primärwald ökologisch desaströse Eukalyptusplantagen anpflanzt, wird der sehr detaillierte UNFPA-Bericht wie fast alle UN-Dokumente dann doch wieder sehr dünn. Die Weltwirtschaftsordnung wird nicht zur Disposition gestellt, von einem Schuldenerlaß, einem kostenlosen Technologietransfer und anderen längst überfälligen Konzessionen der Industrienationen ist auch nicht die Rede. Die Betrachtung der drohenden globalen Ökokatastrophe ausschließlich unter dem Aspekt der Bevölkerungsentwicklung ist ohnehin irreführend.