„Wir sind keine Separatisten“

In Irakisch-Kurdistan gelten die für den 17.Mai angesetzten Wahlen als Lösung für die meisten Probleme/ Angestrebt wird eine dauerhafte Autonomie innerhalb des Irak/ Die beiden Parteien Barsanis und Talabanis sind heillos zerstritten  ■ Aus Zakho Kahlil Abied

„Nein, nein, bekommen Sie keinen falschen Eindruck! Alles ist unter Kontrolle, nur die Peschmerga dürfen in Kurdistan schießen!“ Mustafa, ein 50jähriger Lehrer, versucht zu rechtfertigen, was vor unseren eigenen Augen geschah. Eigentlich hatte man uns zu einem Sport- und Kulturfest für Schüler eingeladen. Gemeinsam mit mehreren tausend kurdischen Bewohnern der Zakhos sollten wir das Ende des Schuljahres feiern. Aber plötzlich hatte eine „Live- Show“ begonnen, die nicht auf dem Programm stand. Zwei rivalisierende Gruppen von Peschmerga, den bewaffneten Einheiten der kurdischen Parteien, hatten einen Streit erst verbal, dann mit Fäusten und schließlich mit Pistolen und Kalaschnikows ausgetragen. Zum Glück feuerten sie nur in die Luft.

„Nach den Wahlen wird es ein solches Chaos nicht mehr geben“, hofft Mustafa. „Inscha'allah!“ — So Gott will! Zwischen Zakho und Suleymania, im kurdisch kontrollierten Teil Iraks gelten die für den 17. Mai angesetzten Wahlen als Lösung für die meisten Probleme. Wenn man derzeit in einem kleinen Kebab-Restaurant seiner Überraschung über die enormen Preise Ausdruck verleiht, richtet der Wirt seinen Finger Richtung Bagdad und klagt: „Das ist wegen der von Saddam gegen uns verhängten Blockade. Aber nach den Wahlen wird alles besser. Inscha'allah!“

Die irakischen Kurden leiden unter einem doppelten Embargo. Unter der seit Oktober von Bagdad gegen sie erlassenen Blockade und unter den nach der Invasion Kuwaits verhängten internationalen Sanktionen gegen den Irak. 200.000 kurdische Beamte und Staatsangestellte bekommen keine Gehälter mehr. Die Lieferung von Rohstoffen aus den irakischen Gebieten nach Kurdistan wurde völlig gesperrt. Fas alle Fabriken sind außer Betrieb. Ein Liter Benzin ist in Kurdistan dreißigmal so teuer wie in Bagdad.

„Der Rückzug der Bagdader Zentralgewalt hat in Kurdistan zu einem politischen und administrativen Vakuum geführt“, erklärt Falak ad-Din Kafai, Mitglied des Politbüros der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) Massud Barsanis. „Saddam hofft, daß sich die Kurdistan-Front nun als unfähig erweist, das Vakuum zu füllen. Wir müssen dieser Herausforderung begegnen. Die Wahlen sind die Lösung.“

Die kurdischen Organisationen erhoffen sich von den Wahlen auch ein Ende der lähmenden Auseinandersetzungen zwischen den acht Parteien der Kurdistan-Front. „Die Strukturen der Kurdistan-Front sind undemokratisch“, hatte Massud Barsani vor der Versammlung seiner Partei erklärt. „Weil jede Frontpartei ein Vetorecht hat, sind wir nicht in der Lage, Beschlüsse zu fällen.“ Am 17. Mai sollen die Kurden nun eine Nationalversammlung mit 100 Mitgliedern wählen. Parteien, die weniger als sieben Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, werden nicht in der Versammlung vertreten sein. Um die Stimmabgabe zu vereinfachen, bekommt jede Partei eine Farbe zugeteilt, Gelb für die KDP Barsanis, Blau für die PUK von Dschalal Talabani, Rot für die Kommunisten.

Die Beziehungen zwischen den beiden großen Frontparteien KDP und PUK haben sich in den letzten Monaten stark verschlechtert. Einige Kurden fürchten, daß sie ihre Differenzen eher militärisch denn politisch lösen werden. Beide unterhalten eigene Peschmerga, je eine eigene Massenorganisation und eigene TV- und Radiostation. Talabani veröffentlicht die derzeit einzige kurdische Tageszeitung, aber Barsani will in wenigen Wochen gleichziehen.

Kurdische Autonomie innerhalb des Irak

Die Hauptdifferenzen der beiden Organisationen drehen sich um die Beziehungen zur Zentralmacht in Bagdad und die kurdische „Außenpolitik“ zu den Nachbarstaaten und den in der Türkei stationierten Alliierten. „Wir sind keine Separatisten. Wir wollen keinen unabhängigen Staat, sondern Autonomie innerhalb des Irak“, sagt der KDP-Mann Kafai. Die Beziehungen zu Bagdad seien seiner Partei wichtig, „egal wer dort an der Macht ist. Deshalb wollen wir die Verhandlungen forsetzen, allerdings unter der Bedingung, daß die Blockade gegen Kurdistan aufgehoben wird.“ Für die PUK stehen dagegen Verhandlungen mit der irakischen Führung derzeit nicht auf der Tagesordnung. Talabani spekulierte in mehreren Interviews über einen Sturz Saddam Husseins. „Wir müssen erst unsere militärischen Kräfte einigen und unser Land wieder aufbauen, bevor wir mit Bagdad verhandeln“, erläutert Nescherwan Amin, Führungsmitglied der PUK, die Strategie seiner Partei. Führende KDPler halten diese Politik für unrealistisch. Ein Gesprächspartner, der mit der KDP sympathisiert, wirft Talabani vor, mit der Parole „Stürzt Saddam!“ um Unterstützung aus dem Westen zu buhlen. Der PUK- Chef wolle sich mit Hilfe der Alliierten zum Führer der Kurden aufschwingen. KDPler glauben an eine Fortsetzung der Gespräche in Bagdad nach den Wahlen, aus denen ihrer Ansicht nach unzweifelhaft Barsani als strahlender Sieger hervorgehen wird. Ihren Optimismus nähren Ergebnisse der vor zwei Monaten durchgeführten Lokalwahlen. Damals errang die KDP in 60 bis 70 Prozent der lokalen Kurdenkomitees die Mehrheit. Sogar in Qisingik, dem Geburtsort Talabanis, bekam die KDP 18 von insgesamt dreißig Sitzen. Bei Wahlen an den Universitäten stimmten zwischen 60 und 80 Prozent der Studierenden für die Partei Barsanis.

Durch die Wahlen zum Nationalrat hoffen viele Kurden das Problem ihrer zweiköpfigen Führung zu lösen. „Bis jetzt ist es unklar, wer die Kurden im Ausland vertritt“, erläutert ein Sprecher der Kurdistan- Front das Dilemma. „Talabani reist in ferne Länder und unterschreibt dort Abkommen. Barsani wiederum lehnt diese ab, da sie angeblich den kurdischen Interessen widersprechen. Anschließend reist er selbst ins Ausland und unterzeichnet seinerseits Verträge. Talabani lehnt diese selbstverständlich mit der gleichen Begründung ab.“

Beobachter fürchten, die Verlierer der Wahlen könnten sich weigern, ihre Niederlage hinzunehmen. KDP und PUK haben ein Abkommen unterschrieben, wonach sie sich verpflichten, jedes Wahlergebnis als demokratisches Votum der Bevölkerung zu akzeptieren. Aber da die KDP scheinbar größere Chancen hat, die Wahlen zu gewinnen, wird in KDP-Kreisen die Ernsthaftigkeit der Verpflichtung seitens der PUK bezweifelt. Über mögliche Koalitionen wird innerhalb der Parteien kein Wort verloren. „Eine Partei gewinnt und führt die Kurden, die anderen unterstützen sie dabei“, skizziert ein KDP-Funktionär die politische Landschaft nach den Wahlen.

Wahlurnen und Tinte aus Düsseldorf

Ein Wahlkampf findet praktisch nicht statt. Die wirtschaftliche Situation ermöglicht es keiner Partei, Geld für Transparente und ähnlichen Schnickschnack zu verschwenden. Täten sie es dennoch, würden sie ihrem Ansehen eher schaden. Unter den Politfunktionären hält sich die Überzeugung, daß die Mehrheit der Bevölkerung ohnehin weiß, welcher Partei ihre Stimme gehört.

Die Kurdistan-Front appellierte an westliche Länder, die Wahlen durch Materialspenden und Geld zu unterstützen. Aus Nordrhein-Westfalen kamen Wahlurnen und Tinte, mit der alle Wahlberechtigten nach der Stimmabgabe einen Stempel auf die Hand erhalten. Um die Tinte liefern zu können, mußte die Düsseldorfer Landesregierung erst eine Genehmigung des Sanktionskomitees der UNO beantragen, denn Tinte unterliegt dem gegenüber dem Irak verhängten Embargo.

Kurden befürchten während der Wahlen Sabotageakte von irakischer Seite, aber auch von der Türkei. „Bagdad und Ankara fürchten die Wahlen“, erläutert ein Vertreter der Kurdistan-Front die Sorge. „Bagdad fürchtet die Signalwirkung demokratischer Wahlen in Kurdistan für den gesamten Irak. Ankara hat Angst, die Wahlen könnten die türkischen Kurden beeinflussen.“ Um Anschläge und Manipulationen zu verhindern, hat die Kurdistan-Front eine große Zahl von Wahlbeobachtern aus den USA, Europa, Iran, Syrien, Jordanien, der Türkei und von der PLO eingeladen. Auch das irakische Parlament in Bagdad erhielt ein Einladungsschreiben. „Wir haben sie eingeladen, um der Führung in Bagdad zu zeigen, daß wir ein Teil des Iraks sind und die Verfassungssituation des Landes akzeptieren“, erklärt ein Vertreter der Kurdistan- Front. „Nun hoffen wir, daß Bagdad Parlamentarier schickt und keine Soldaten oder Bomben.“