Basis will Lied vom Teilen nicht singen

Das Mai-Motto des DGB „Teilen verbindet“ stößt bei westdeutschen Mitgliedern auf heftige Kritik  ■ Von Martin Kempe

Berlin (taz) — Schon in normalen Zeiten ist der traditionelle Tag der Arbeit, der 1.Mai, für die meisten hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionäre ein Greuel. Sie müssen sich auf in der Regel schlecht besuchten gewerkschaftlichen Pflichtveranstaltungen produzieren, anstatt wie die Normalbevölkerung den arbeitsfreien Tag zu genießen. Aber in diesem Jahr ist ihr Mißbehagen gegen den Kampftag der Arbeiterbewegung besonders ausgeprägt, denn sie müssen den Maifeiertag mit einem Motto bestreiten, das viele von ihnen für völlig falsch halten. „Teilen verbindet“ heißt das diesjährige Mai- Motto, das der DGB-Bundesvorstand Anfang dieses Jahres beschlossen hat und mit dem die Gewerkschaftsführung auf die besondere politische Situation im vereinigten Deutschland eingehen will.

„Teilen verblödet“, heißt es dagegen inzwischen bei vielen Funktionären und Betriebsräten an der Basis in Westdeutschland, die den DGB- Slogan in den gegenwärtig laufenden Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst, in der Metallindustrie und in anderen Branchen am liebsten verstecken würden, anstatt die Litfaßsäulen damit zu bekleben. In vielen Bereichen, „bei DGB-Kreisen, Landesbezirken und Gliederungen einiger Gewerkschaften“, so heißt es in einem bekanntgewordenen internen Strategiepapier des DGB, würden das Motto und die dazu bisher vorgelegten Materialien abgelehnt. Vielfach werde das Wort „Teilen“ durch „Solidarität“ ersetzt, würden eigene Plakate und Materialien erstellt. Denn es ist ganz offensichtlich: die gewerkschaftliche Basis in Westdeutschland, die überwiegende Mehrheit der Mitglieder will das Lied vom Teilen nicht anstimmen. Sie fordert von den Gewerkschaften vielmehr, dem staatlich verordneten Teilen mit den Ostdeutschen endlich durch kräftige Lohnerhöhungen ein Ende zu setzen.

In den vorbereitenden Materialien des DGB-Bundesvorstandes für die Kampagne „Teilen verbindet“, die über das ganze Jahr 1992 hingezogen werden soll, ist diese Stimmungslage der westdeutschen Mitgliedschaft durchaus bedacht. „Der — moralische — Begriff des Teilens hat gegenwärtig — politisch — einen konservativen Akzent“, heißt es in der Beschlußvorlage der DGB- Grundsatzabteilung für den Geschäftsführenden Bundesvorstand. Teilen werde allein als Aufforderung an die Arbeitnehmer verstanden, „den Gürtel enger zu schnallen“ und zugunsten des Wiederaufbaus im Osten Opfer zu bringen, während gleichzeitig die Unternehmer mit neuen Steuerermäßigungen beschenkt würden. Deshalb sei es für die Gewerkschaften wichtig, dem Begriff des Teilens einen anderen politischen Inhalt zu geben, „so daß sich die moralische Qualität dieses Begriffes künftig nicht mehr gegen die Gewerkschaften richtet, sondern gegen die Reichen und Einflußreichen“. Damit würden auch die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tarifpolitik, so heißt es in dem Papier, zumindest langfristig verbessert.

Zudem will der DGB seine „Teilen“-Kampagne nicht allein auf die deutsche Situation beziehen, sondern auch auf einen Ausgleich zwischen Arm und Reich in Europa und der Dritten Welt hinwirken. Man will vor den weltweiten sozialen Diskrepanzen nicht die Augen verschließen, sondern durchaus anerkennen, daß die Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland zwar gegenüber den Selbständigen und Kapitalbesitzern benachteiligt, zugleich aber „gegenüber der Mehrheit der Menschen in Ost- und Südeuropa und in den meisten Ländern des Südens privilegiert“ ist. Aber gerade diese „Komplexität der Verhältnisse“, so argumentieren die DGB-Strategen, werde von der Bundesregierung und den Konservativen als Waffe gegen die Gewerkschaften genutzt.

Die Kampagne des DGB zielt also inhaltlich darauf, die westdeutsche Arbeitnehmerklientel politisch und moralisch zu entlasten und eine Politik sozialer Gerechtigkeit gegenüber Unternehmern und Selbständigen einzuklagen. Die Notwendigkeit zusätzlicher Belastungen aufgrund der deutschen Einheit und des internationalen Wohlstandsgefälles wird zwar nicht bestritten, aber die Gewerkschaften wehren sich gegen die einseitigen Forderungen nach ihrer Opferbereitschaft durch die herrschende Politik und die öffentliche Meinung. So treten führende Gewerkschaftsvertreter durchaus für eine Fortsetzung des steuerlichen Solidaritätszuschlages ein, obwohl dies „kaum Unterstützung bei der Mitgliedschaft in Westdeutschland“ findet, wie das Strategiepapier der DGB-Grundsatzabteilung einräumt. Auch ist man sich klar darüber, daß — von den Gewerkschaften unterstützte — Investitionen in Ostdeutschland in einzelnen Fällen zu Produktionsverlagerungen, also zu Arbeitsplatzverlusten im Westen führen können. Aber die Opferbereitschaft der westdeutschen Arbeitnehmer werde zerstört, wenn gleichzeitig Steuergeschenke an die Unternehmer verteilt würden.

Das Auseinanderdriften der Mitgliederinteressen in Ost- und Westdeutschland wird für die Gewerkschaften immer mehr zum Problem. Während jene ostdeutschen Mitglieder, die noch einen Arbeitsplatz haben, vehement eine möglichst schnelle Angleichung ihrer Löhne auf westdeutsches Niveau einfordern und von daher auch die Tarifforderungen im Westen eher unterstützen, schütteln viele der inzwischen arbeitslosen Gewerkschaftsmitglieder im Osten über das Tarifspektakel nur noch den Kopf. „Es mehren sich die Stimmen unter Kollegen“ in Ostdeutschland, so konstatieren die DGB-Strategen, „daß Einkommenszuwächse in Westdeutschland angesichts ihrer Lage unangemessen sind“.

Der innergewerkschaftliche Interessenausgleich wird also um so schwieriger, je ausschließlicher die Forderung nach „Teilen“ allein auf die verschiedenen Gruppen der abhängig Beschäftigten in Deutschland beschränkt bleibt. Die „soziale Asymmetrie der jetzigen Finanzierung“ der Einheit, stellt die DGB- Grundstzabteilung fest, bringe die Gewerkschaften in das Dilemma, den westdeutschen Mitgliedern „Forderungen zugunsten der Menschen in Ostdeutschland nurmehr schwerlich vermitteln zu können“. Die „Teilen-Kampagne“ soll da Entlastung schaffen und daran erinnern, daß auch „die Politik des Teilens sich von oben nach unten“ definiert.

Aber all diese Überlegungen der DGB-Strategen in der Düsseldorfer Vorstandsverwaltung spielen bei der Kritik der westdeutschen Basis an der „Teilen-Kampagne“ kaum eine Rolle. Hier herrscht die Meinung vor, daß mit dem Teilen jetzt Schluß gemacht werden soll und der DGB unverständlicherweise nun auch in das Horn jener blase, die den kleinen Leuten schon immer an den Geldbeutel wollten. Die Stimmung steht auf Besitzstandsverteidigung. Der Stuttgarter Bezirk der IG Metall hat kürzlich zu einer Kundgebung gegen Sozialabbau, gegen Steuer- und Abgabenerhöhungen zu Lasten der abhängig Beschäftigten aufgerufen. Und viele ÖTV-Funktionäre ereifern sich, der DGB falle ihnen beim bevorstehenden Arbeitskampf in den Rücken. Sie kündigten an, die DGB- Maiplakate an den Litfaßsäulen mit aktuellen Streikaufrufen zu überkleben.