Jetzt muß eine 7 vor das Komma

Frust über die „politischen Lügenbolde“ sitzt bei Müllmännern tief/ „Ich hab' Angst um die Demokratie“  ■ Aus Bochum Walter Jakobs

Klaus Stritzke, ein schwergewichtiger 49jähriger Müllwerker aus Bochum, ist gewiß kein Hasenfuß, aber in den letzten Monaten hat er so manches mal „richtig Angst gekriegt“. Der von seinen Kollegen wohl wegen seines breiten Kreuzes nur „Bonanza“ gerufene Stritzke steht am frühen Mittwoch morgen mit ein paar Dutzend Kollegen vor dem geschlossenen Tor der zentralen Mülldeponie in Bochum. Wie überall in Westdeutschland rühren die Müllmänner auch im Revier seit Mittwoch keine Hand mehr. Was Bonanza in letzter Zeit schreckt, sind die politischen Töne, „die du überall bei den Arbeitern hörst“. Die Entwicklung gehe „nach rechtsaußen“, fürchtet der Sozialdemokrat. Der Frust über die miese Einkommens- und Finanzpolitik, über die da oben sitze so tief, daß „ich inzwischen Angst um unsere Demokratie“ habe, sagt Bonanza.

Wer glaubt, solche Aussagen als die üblichen starken Sprüche während eines Arbeitskampfes abtun zu können, solle sich die letzten Landtagswahlergebnisse in Erinnerung rufen. Wenn heute in NRW Kommunal- oder Landtagswahlen wären, säßen die Rechtsradikalen „auch hier überall drin“. Da ist sich ÖTV-Vertrauensmann Stritzke ganz sicher. Und alle Kollegen pflichten ihm bei.

Die Enttäuschung über die westdeutsche politökonomische Führungselite ist grenzenlos. Wenn am Tor vor der Müllhalde die Rede auf die Bonner Regierung kommt, dann machen Begriffe wie „Lügenbolde“ und „Betrüger“ die Runde. In der Regionalzeitung haben sie schon beim Frühstück gelesen, daß die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Schäuble-Vorschlag, die Diäten der Abgeordneten um 5 Prozent zu kürzen, am Vortag abgelehnt hat. Bei solcher Lektüre kommt den Streikenden ebenso die kalte Wut hoch wie bei den Maßhalteappellen des Kanzlers, dem sie die geplante, mehrere hundert Millionen Mark teure Luxusausstattung seines Dienstflugzeuges vorhalten. „Das ist doch Wahnsinn, was hier läuft“, sagt Reiner Sadowski.

Dabei richtet sich der Zorn beileibe nicht nur gegen die CDU. Die Rolle der schleswig-holsteinischen Finanzministerin Heidi Simonis im Tarifkampf ist für Sadowski ebenso skandalös. Das Gerede von der Wohlstandsinsel mag der 42jährige, der erst seit Ende letzten Jahres bei der Müllabfuhr arbeitet, nicht mehr hören. Sadowski verdient 2.500 Mark brutto. Netto bringt er 1.910 Mark nach Hause. Seine Wohnung kostet 850 Mark. „Ginge meine Frau nicht arbeiten, könnten wir uns absolut nichts leisten.“

Daß angesichts solcher Einkommensverhältnisse die Solidaritätsappelle der üppig bezahlten Manager Bitternis und Wut hervorrufen, kann da nur noch Ignoranten überraschen. Die Menschen in den orangefarbenen Anzügen haben genau registriert, daß ihre Kinder dem Staat weniger Geld wert sind als die Kinder der besser Verdienenden in diesem Lande. Davon redet Reiner Sadowski am Mittwoch morgen ebenso wie von den politischen Angriffen auf die Karenztage.

Für die öffentlichen Arbeitgeber wird die Lohnrunde jetzt wohl teurer. Auf ein Bröckeln der Streikfront sollten sie nach dem Eindruck am diesem Morgen besser nicht spekulieren. Viel eher muß die ÖTV-Chefin Monika Wulf-Mathies fürchten, innergewerkschaftlich eins auf die Nase zu bekommen, sollte sie einem moderaten Abschluß das Wort reden. Schon das Schlichtungsergebnis von 5,4 Prozent sei kaum zu vermitteln gewesen, sagt Bonanza. Jetzt müsse „eine Sieben vor dem Komma stehen“, und die unteren Lohngruppen müßten „einen kräftigeren Schluck aus der Pulle“ bekommen.

Solche Forderungen sind auch bei den meisten unbeteiligten Passanten populär. Ob diese den Streik stützende Grundstimmung kippt, wenn in den nächsten Tagen die stinkenden Müllberge in den Straßen wachsen, steht noch dahin. Der eher ängstlich genuschelte Satz einer älteren Passantin vor dem Betriebshof an der Bochumer Universitätsstraße — „ihr wollt uns wohl alle vergiften“ — sorgte bei den Müllmännern vor allem für Heiterkeit. „Vielleicht sehen die Leute jetzt endlich mal, was wir leisten.“