... wenn wir keine Alternativen zu denken wagen: Rückblick aus dem Jahr 2010

■ Helmut Zorn, Teil II: „Die positive Alternative — diese berichte ich aus der Rückschau des Jahres 2010 in fast märchenhafter Weise...“

Ursache war die Tatsache, daß es in den Köpfen der Senatoren zu einem unvorhergesehenen Ereignis gekommen ist. Das geschah im Zusammenhang mit den Haushaltsberatungen 1992/1993.

Wie von Skeptikern vorhergesehen waren Einsparungen nach den Vorstellungen der Koalitionsvereinbarung sehr problematisch. Weitere Ausgabenexplosionen waren vorprogrammiert. Und da Politik manchmal so ist, wie Klein-Fritzchen sich das vorstellt, saß der Senat mit seiner geballten Verantwortung bei seinen Diäten von Suppe, Wasser und Brot. Er diskutierte hin und her, ließ sich Pläne über Pläne vorlegen, von klugen Sachverständigen vortragen. Das Ergebnis war bei Lichte besehen eindeutig: Nichts ging mehr, wenn man nicht zu letztlich unvertretbaren Hexereien greifen wollte.

Wenn's nicht weitergeht - in die „Rose“

Über das Folgegeschehen bis zum nächsten Morgen um fünf Uhr hat der Senat leider strengstes Stillschweigen vereinbart. Es sind deshalb nur die Ergebnisse bekannt geworden. Jedenfalls kam eine oder einer der Senatoren — offenbar mit bremischen Geschichtskenntnissen — mit dem zunächst einmal gar nicht ernst gemeinten Vorschlag, man möge doch — wie es der mittelalterliche Senat in derartigen Situationen auch getan habe — unter dem Zeichen der Rose weitertagen. (...)

Der Senat verfügte sich in den Rose-Keller. Um die alten Geister und die alte Geschichte zu beschwören, begann man mit einem winzigen Gläschen aus dem alten Faß. (...) Jedenfalls kamen am nächsten Morgen um fünf Uhr elf außerordentlich heitere Menschen in auffällig veränderter Reihenfolge aus dem Gewölbe: Die Grüne hatte sich beim Liberalen eingehakt, die Sozialdemokratin beim Grünen. In einem Eilrundruf wurden gute Formulierer ins Rathaus gerufen, und es gab morgens um 7 eine Pressekonferenz, in der folgendes verkündet wurde: Der Senat hatte beschlossen, mit seinen Mitgliedern eine neue Partei zu gründen. Diese Partei hatte und hat den Namen: Bremer Bürgerpartei. Das Programm dieser Partei wurde vorgestellt. In den entscheidenden Grundzügen lautete es: Die Koalitionsvereinbarung kommt in die Schublade. (...) Bremen will sich nicht kaputtsparen, sondern gesundinvestieren. Investitionen gibt es in den Bereichen, in denen mit Sicherheit mit Erträgen zu rechnen ist. Phantasie und Kreativität haben Vorrang vor Bürokratie. (...)

Zwei besonders kreative, kenntnisreiche und durchsetungsfähige Beamte aus dem Wirtschafsressort wurden mit allen denkbaren Sondervollmachten ausgestattet. Als erstes wurde ihnen der Komplex des Polizeiamtes, des Untersuchungsgefängnisses und des Land- und Amtsgerichtsgebäudes zur weiteren Entwicklung und Entscheidung überlassen. Diese Beamten kannten nur zu gut die Defizite des Innerstädtischen Handels und des Oberzentrums Bremen: Defizit an Flächen, Defizit an kleinteiligen Sortimenten, Defizit an Bummelqualität, Defizit an Freizeitattraktivität, Defizit praktisch an allem, was die Anziehungskraft einer Großstadt ausmacht, wenn man von den ererbten Schätzen absieht, die den Krieg überdauert haben.

Vom Polizeiamt zum teuersten Erlebnisort

Weil auch diese Beamten kein Geld hatten, suchten sie sich einen Investor, gründeten mit ihm eine gemeinsame Gesellschaft, übertrugen dieser Gesellschaft in Erbpacht auf 50 Jahre zunächst die Räume des Untersuchungsgefängnisses, die Souterrain- bzw. Erdgeschoßbereiche der Gerichte und des Polizeiamtes. In einem Wettbewerb wurde innerhalb von wenigen Monaten eine faszinierende Konzeption entwickelt. Da der Investor mit seinen 49% die gesamten Baukosten tragen mußte — die Stadt brachte mit 51% die Flächen und Gebäudeteile ein — kostete das Abenteuer der Stadt wenig außer der Verlagerung einiger Verwaltungseinheiten. Das entwickelte Konzept war faszinierend: Es wurden über 100 Gewerbeeinheiten in Größen zwischen zwanzig und über hundert Quadratmetern geschaffen. Das Überzeugenste allerdings waren der Mix und die Mietkonditionen. (...) Es wurden Betreiber für Läden gesucht, die mit Seidenstoffen, Honig, Gewürzen, Orchideen, Glasvasen, Antiquitäten, Artikeln für Linkshänder, Edelsteinen, Erwachsenenspielzeug, Designerfüllern, Champagner und vielen anderen Spezialitäten Handel trieben, und zwar zu märchenhaften Konditionen: die niedrigsten Mieten der Stadt. Die Konditionen sahen vor, bis zu einem Umsatz von 5.000 Mark je Quadratmeter eine Miete von 2 Prozent — das eine Monatsbelastung von netto kalt von nicht einmal 9 Mark — ab 10.000 Mark 4 Prozent, ab 20.000 Mark/qm Umsatz 8 Prozent, ab 30.000 Mark/qm Umsatz 10 Prozent.

Diese Grundstruktur war noch variiert nach Sortimenten. Der Seiden- und Champagnerhändler mußte höhere Prozentsätze zahlen als die Kunsthändler.

Der Gipfel aber war, daß einige kostenlose Ateliers für Künstler und Kunsthandwerker eingerichtet wurden. Natürlich gibt es dort auch Spezialitätenrestaurants, Jazz und Kabarett, schlicht alles, was anspruchsvoll Spaß macht. Besserwisser bescheinigten den beiden Innovatoren Schwachsinn.

Aus der Sicht des Jahres 2010 ist das Ergebnis eindeutig: Aus diesem Gebiet ist das teuerste Pflaster der Republik geworden. Quadratmeterumsätze von 20.000 Mark nach Preisen des Jahres 1992 gelten als sehr niedrig. Normalumsätze liegen bei 30.000 bis 40.000 Mark, also nach heutigen Preisen eine Quadratmetermiete von 400 Mark. Da mit diesen Einnahmen die Ateliers subventioniert werden müssen, wachsen auch hier die Bäume nicht in den Himmel.

Der Wall als Skulpturenpark — Autos in „-1“

Natürlich ist aus dem Wall zwischenzeitlich eine der reizvollsten deutschen Geschäftsanlagen geworden. Es versteht sich von selbst, daß an dieser landschaftlich schönsten Lage Bremens die Autos in der Minus 1-Ebene fahren. Weitere Auswirkungen sind im Laufe der Jahre gewesen, daß der Gesamtgebäudekomplex des Polizeiamtes zu einem Wallfahrtsort für erlebnisfreudiges Publikum geworden ist. Amsterdam wirbt hier genauso wie Madrid. Design drängt in die knappen Flächen.

Am Rande bemerkt: Die Wallanlagen im Anschluss an die Kunsthalle bis zur Bischhofsnadel sind zu einem bedeutenden Skulpturenpark mit wechselnden Ausstellungen umgestaltet worden. Selbstverständliche Auswirkung dieses Komplexes ist die Tatsache, dass der Schnoor zum ersten Mal seit Kriegsende richtig an die Stadt angeschlossen ist. Die Verbindung mit der Innenstadt ist im übrigen auch durch eine faszinierende Umgestaltung der Börsenhöfe erreicht worden. Hier ist das Mekka der Individualisten angesiedelt. Daß die Böttcherstraße dadurch genauso eine Aufwertung erfahren hat wie der Bereich der Martinistrasse, versteht sich von selbst. Im übrigen fahren die Autos hier ebenfalls unter der Erde.

Bremen als Kulturstadt

Einige Anmerkungen zur Kultur: Die Verantwortlichen sind sich bewußt geworden, dass nur da auf Dauer Leben vorbildlich funktioniert, wo Menschen sich rundherum wohl fühlen. Die erste Devise der Neuorientierung war: Klasse statt Masse. — Bremen konnte sich damals kein Weltklasse-Grossorchester leisten, keine Weltklasseoper, aber es konnte die bereits vorhandenen kleinen Formen und Spezialformen bremischer Kultur zum Schwerpunkt machen, und das ist geschehen. Im Jahre 2010 verfügt Bremen über das pulsierendste Kabarettleben der Republik, es ist eine Hochburg von alter Musik, Theater und Jazz. Es hat sich allerdings auch etwas geleistet, nämlich die alte Tradition seiner Spitzenklasse auszubauen: das Tanztheater.

Bremen braucht mehr Verkehr - mehr ÖPNV

Einige Anmerkungen zum Thema Verkehr: Sensationell war die Konsequenz der Einsicht, daß Bremen nur mit mehr Leben überleben kann und nicht mit weniger. Dieses führt nämlich zum Kippen des Beschlusses, den Autokunden das Leben in der Stadt zu vergällen. Ganz im Gegenteil: Die Parkplatz-GmbH wurde ermutigt ihre Kapazitäten konsequent in Einstellvorgänge für Stadtbesucher umzusetzen. Ein differenziertes Parkgebührenmodell mit zum Teil drastischen Preissenkungen in nachfrageschwachen Zeiten führte zum Erstaunen vieler, aber durchaus nicht aller, zu Mehreinnahmen. Aber der gewaltige Besucherzulauf Bremens konnte natürlich weder durch ein perfektioniertes Parkleitsystem abgewickelt werden, noch durch die inzwischen geschaffenen zusätzlichen Parkplätze in der Tiefgarage unter der Bürgerweide. Es wurde auch ein zusätzlicher großer Parkplatz unter dem Rembertikreisel, unter dem Bauvorhaben auf dem Güterbahnhofsgelände und unter dem Grünenkamp angelegt. Daß diese Bereiche inzwischen voll in den Passantenlauf der Stadt eingebunden sind, versteht sich im übrigen von selbst.

Viele haben es dann als historisches Ereignis emfunden, als der Senat das ÖPNV-Konzept kippte, in der richtigen Einsicht, daß trostlose Heerstraßenzüge auch nicht das „Gelbe vom Ei“ sind. Statt dessen wurde in Bremen ein elektronisches System entwickelt, das — wie inzwischen auch in anderen Städten — Straßenbahnen und Bussen jeweils freie Fahrt garantiert. Wenn aber Bus und Bahn vorbei sind, können selbstverständlich die Autos auch die nun wieder freie Strasse benutzen.

Dies System war im übrigen Abfallprodukt einer weiteren Revolution in Bremen: Da man 1992 nach der legendären Senatssitzung auch nicht mehr Geld hatte, aber viel mehr gute Ideen, war man im Bereich der Wissenschaftspolitik ebenfalls zu der Einsicht gekommen, daß man kostenträchtige Objekte gegen andere Standorte nur mit schwacher Aussicht auf Erfolg realisieren könnte.

Drewermann & Sloterdeyk pilgern nach B.

Das hinderte aber die bremische Wissenschaftslandschaft nicht, sich auf ebenfalls mittelalterliche Qualitäten Bremens zu besinnen: Bremen war schließlich jahrhundertelang ein Zentrum der geistigen Auseinandersezung gewesen. Konsequenterweise hatte die Universität in Abstimmung mit dem Senat beschlossen, die gastprofessur von Ivan Illich zum Anlaß zu nehmen. Es gelang, Eugen Drewermann genauso für die Universität Bremen zu begeistern wie den Zyniker Sloterdeyk. Viele Querdenker folgten automatisch. ( ...) Bremen entwickelte sich zum Zentrum der Forschung zum Thema künstliche intelligenz. (...)

Steuern gesenkt

Die prosperierende Stadt produzierte soviel Steuern, daß ein weiteres Phänomen zu verzeichnen war: Gewerbesteuer, Energiekosten und Grundsteuern wurden gesenkt. Bremen wurde als Standort für Industrie, Messewesen, Dienstleistungen, Versicherungen und Banken so interessant, daß die Abgaben der neuen Ansiedlungen jeden Einnahmeverlust überkompensierten. (...)